Profinet und APL in der Prozessindustrie Der Startknopf ist gedrückt

09.04.2018

Im Interview mit P&A erzählt Karsten Schneider, Vorstandsvorsitzender der Profibus Nutzerorganisation (PNO), warum sich der offene Industrial-Ethernet-Standard Profinet jetzt auch in der Prozessindustrie etabliert. Und Dr. Jörg Hähniche, ebenfalls im Vorstand der PNO und Chairman des APL-Projektes, berichtet über den aktuellen Stand bei der Entwicklung des Advanced Physical Layers, der Ethernet im Feld der Prozessautomatisierung standardisieren soll.

Herr Schneider, wie stellt sich aus Sicht der Kommunikation die derzeitige Situation in der Prozessindustrie dar?

In den vergangenen zwei Jahren kam bezüglich der Kommunikation erhebliche Bewegung in die Prozessautomatisierung. Zwar läuft immer noch viel über 4…20 mA, derzeit entstehen aber viele neue Ideen und Konzepte in Richtung Industrie 4.0 und Digitalisierung. Bestes Beispiel ist NOA (Namur Open Architecture), mit dessen Hilfe die bisher doch recht unbeweglichen Automatisierungssysteme für neue Aufgaben ertüchtigt werden sollen. NOA kann beispielsweise genutzt werden, um ein Optimierungsprogramm für Ventile oder Instandhaltungswerkzeuge anzubinden, ohne dass in die bestehende Leitsystemstruktur eingegriffen werden muss. Das Projekt ist zugleich ein guter Beleg für die Aufbruchstimmung in der Branche, schließlich wurde NOA in einer hohen Geschwindigkeit vorangetrieben.

Warum sind Feldbussysteme in der Prozessindustrie in der Vergangenheit unter den Erwartungen geblieben?

Hier gibt es sicher mehrere Gründe. Früher lag der Automatisierungsanteil an der Gesamtinvestition einer großen Anlage vielleicht bei zehn Prozent. Das Risiko, an dieser Schraube etwas zu drehen und durch den Einsatz einer neuen Technologie womöglich zu riskieren, dass es dadurch bei der Inbetriebnahme zu Verzögerungen kommt, wollten viele nicht eingehen. Gleichzeitig ist es sicher so, dass in der Fertigungsindustrie der Modul-Gedanke viel früher ausgeprägt war. Erst mit dem Feldbus war es möglich, einzelne Maschinen dezentral zu automatisieren. Die Idee der Modularisierung kam in der Prozessindustrie aber erst in den vergangenen drei, vier Jahren auf. Einfach weil der Markt inzwischen kleinere Losgrößen fordert. Und im täglichen Betrieb kamen die Anwender mit HART, das ja quasi schon eine Digitalisierung bereitstellt, gut zurecht, da HART viele Erleichterungen in Bezug auf Konfiguration und Diagnose bietet.

Gab es noch weitere Gründe?

Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass man Fehler bei einer 4...20 mA-Verdrahtung nicht so schnell merkt, insbesondere was die Signalqualität angeht – man kann eine Anlage eine ganze Weile damit weiterfahren. Ein digitales Kommunikationssystem dagegen merkt sofort, wenn es einen Fehler gibt und erzeugt eine entsprechende Diagnosemeldung.

Welche Vorteile bietet nun der Einsatz von Profinet in der Prozessindustrie?

Neben höheren Bandbreiten und vielfältigen Möglichkeiten zur Diagnose ist es vor allem die Flexibilität bei Netzwerken, die enorme Vorteile mit sich bringt. Mit Profinet ist es viel einfacher, andere Netzwerke einzubinden, etwa für die Anbindung von vor- und nachgelagerten Einheiten, wie Verpackungslinien oder die Anbindung an ERP-Systeme. Dies bietet wiederum die Möglichkeit, sehr viel flexibler zu produzieren oder auch neue Optimierungsverfahren anzuschließen. Im Übrigen ist dank OPC UA auch der Anschluss über NOA ganz einfach, ohne dass hierfür ein eigenes Netzwerk nötig wäre.

Im Vergleich zur Einführung von Profibus in der Prozessindustrie: Was läuft bei Profinet anders?

Zum einen haben sich die Anforderungen im Markt stark gewandelt. Man braucht heute zwingend die Digitalisierung, um Cloud-Anbindungen, Modularisierung, Optimierung von Instandhaltungsmaßnahmen etc. zu realisieren. Zum anderen ist die Zusammenarbeit mit den Anwendern heute eine andere. Bei Profinet arbeitet man sehr eng mit der Namur zusammen, um alle spezifischen Anforderungen der Prozessindustrien zu berücksichtigen. Zudem wurde Profinet so ertüchtigt, dass es in Anwendungen der Prozessindustrie zum Einsatz kommen kann. Bisher abgearbeitete Punkte betreffen den Austausch zyklischer und azyklischer Daten, die Integration von Feldbussystemen über Proxies, Zeitsynchronisation und Zeitstempelung, Diagnose und Redundanz sowie Anlagen-Konfigurierung während des Betriebs.

Wo sind noch Hausaufgaben zu erledigen?

Das nächste Ziel ist es, das PA-Profil für Feldgeräte mit Profinet-Schnittstelle für alle Anwendungen der Prozessautomatisierung zugänglich zu machen.

Herr Dr. Hähniche, Sie als Chairman des APL(Advanced Physical Layer)-Projektes können uns sicher die Frage beantworten, wie weit die Arbeiten bei der APL-Technologie gediehen sind?

Die Arbeiten bei der Standardisierung laufen planmäßig und wir sind sehr zuversichtlich, dass bis Ende 2019 der Standard, der dann den Namen 10-Base-T1L haben wird, freigegeben wird. Zur Achema wird es jedoch bereits erste Prototypen zu sehen geben. Die drei beteiligten Nutzerorganisationen PI, ODVA und die FieldComm Group, werden dort im Übrigen auch gemeinsam die Vorteile der Technologie darstellen.

Die Entwicklung des APL hat recht lange gedauert. Was war die Ursache hierfür?

Ich denke, es gibt drei Gründe: Zunächst mussten die Anforderungen seitens der Anwender formuliert und entschieden werden, welches Konzept man überhaupt weiterverfolgen will. So gab es durchaus Überlegungen, nicht den Weg über die IEEE, also die internationale Standardisierung zu gehen, um den Prozess zu beschleunigen. Als man sich dann für die internationale Standardisierung entschieden hatte, kamen naturgemäß noch weitere Anforderungen dazu. Die Standardisierung bringt für den Anwender jede Menge Vorteile mit sich, so lassen sich Standard-Chips einsetzen, und die Anschaltkosten pro Gerät werden niedriger. Schlussendlich sollte der derzeit entwickelte Physical Layer für jedes Protokoll geeignet sein. Uns war es auch wichtig, alle Organisationen mit ins Boot zu holen. Damit haben wir nun ein Konzept, das von allen getragen wird.

Über welche Eigenschaften verfügt der neue Ethernet-Standard?

Die heutigen Ethernet-Standards erfüllen die besonderen Anforderungen der Prozessindustrie, wie sie im Übrigen auch in der NE 74 zusammengefasst sind, nicht. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: 2-Draht-basierte Kommunikation, bis zu 1.000 m Segmentlänge, Versorgung der Prozesssensorik bzw. -aktorik über die 2-Draht-Verbindung parallel zur Kommunikation (loop-power) sowie der Einsatz in explosionsgefährdeten Umgebungen. Der neue Ethernet-Standard besitzt eine Datenrate von 10 Mbit/s und kann gleichzeitig über eine 2-Draht-Leitung (Full Duplex Kommunikation) senden und empfangen. Zudem verfügt er über eine optionale Energieversorgung der angeschlossenen Endgeräte über die 2-Draht-Leitung (Power over Data Line).

Was sind derzeit die wichtigsten Aufgaben des APL-Projektteams?

Ein Punkt ist, die Interoperabilität von APL-Komponenten sicherzustellen. Dazu gehört die Spezifikation einer eigensicheren Kommunikation und Versorgung und dazugehöriger Profile, so dass Industrial Ethernet-Feldgeräte in explosionsgefährdeten Bereichen bis Zone 0 bzw. Class I/Division 1 eingesetzt werden können. Außerdem kommt dem Thema „Sicherstellen der Konformität und damit der Interoperabilität der Geräte“ eine große Bedeutung zu. Daher werden geeignete Konformitätskriterien definiert und zugehörige Testfälle und Testwerkzeuge spezifiziert und entwickelt.

Wie soll bei der Einführung von APL vorgegangen werden?

Ich denke, es ist wichtig, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Wir müssen früh Piloten aufsetzen, um gemeinsam Erfahrungen mit der neuen Technologie zu sammeln. Gleichzeitig muss man auch schauen, wie man mit der installierten Basis umgeht. Man wird sicher nicht ein einzelnes Gerät tauschen, aber wohl segmentweise vorgehen. Hier sollte es möglich sein, dass automatisch erkannt wird, welche Komponenten zu ersetzen sind. Im Unterschied zu anderen Technologieeinführungen haben wir jedoch auch viele Hausaufgaben schon erledigt. So wurden Conformance Tests oder EMV-Prüfungen durchgeführt. Gleichzeitig entwickelt PI Guidelines für die Installation, entwirft Testszenarien und sorgt für Referenzimplementierungen. Auch das Profinet-Profil 4.0 wird derzeit bereits angepasst, so dass ein Gerätetausch im laufenden Betrieb möglich ist.

Welches sind die nächsten Schritte?

Die Industriepartner stellen ausgewählte Demonstratoren/Konzeptgeräte während der Achema 2018 auf den Ständen von FCG, ODVA und PNO aus. Die ersten zertifizierten Geräte mit APL-Anbindung wird es dann hoffentlich in 2021 geben. Wir denken aber bereits einen Schritt weiter. So wird es auch in der Prozessindustrie Anfragen geben, die eine 100-Mbit/s-Anbindung fordern, weil sie eine höhere Leistung benötigen. Da auch für eine 100-Mbit/s-Technologie der Weg wieder nur über eine IEEE-Standardisierung laufen kann, suchen die APL-Mitglieder zurzeit nach weiteren Interessenten, die eine Lösung für eine Ethernet-Technologie benötigen, die die Anforderungen nach 100 Mbit/s, 200 bis 500 m Segmentlänge sowie einer 2-Draht-Kommunikation erfüllt.

Herr Schneider, Herr Dr. Hähniche, vielen Dank für das Gespräch.

Die neusten Entwicklungen in der Prozessindustrie

Zusammen mit zahlreichen Mitausstellern kommt die Profibus Nutzerorganisation dem Ruf der Achema nach, nicht nur Marktplatz der Gegenwart, sondern auch Innovationsbörse für die Zukunft zu sein. Somit steht nicht nur eine Live-Demo von Profibus und Profinet für die Prozessautomatisierung beim PI-Gemeinschaftsstand in Halle 11.0 Stand C 43 im Mittelpunkt.

Auch das aktuelle Thema APL (Advanced Physical Layer) wird anhand eines Demonstrators auf Basis von prototypischen Entwicklungen von Experten erläutert. Ergänzend erfahren kann man im Rahmen eines Vortrages des Achema-Kongresses (Donnerstag, 14. Juni 2018, um 11.10 Uhr), wie APL-Feldgeräte eine durchgängige Digitalisierung bis in die Feldebene ermöglichen.

Die Evolution der Geräteintegration mit FDI komplettiert den Auftritt der Technologie-Experten mit einem Demomodell mit Hilfe unterschiedlicher anwendungsnaher Use-Cases.

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