Nie wurde so viel Innovationsengagement der chemisch-pharmazeutischen Industrie eingefordert wie in der aktuellen Situation. Denn exzellente Zukunftsinvestitionen sind zwingend notwendig, um den wirtschaftlichen Beschränkungen der Krisenjahre etwas entgegenzusetzen. Dieses Fazit zog Thomas Wessel, Vorsitzender des Ausschusses Forschung, Wissenschaft und Bildung im Verband der Chemischen Industrie (VCI), auf einer Pressekonferenz in Frankfurt.
„Corona, Probleme in den Lieferketten und die Energiekrise erfordern innovative Lösungen aus der Chemie. Aber die aktuellen Herausforderungen setzen die Ertragslage der Unternehmen erheblich unter Druck“, sagte Wessel. Vor diesem Hintergrund justiert die chemisch-pharmazeutische Industrie ihre Forschungsetats. Der VCI prognostiziert daher, dass die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) 2022 trotz des steigenden Innovationsbedarfs nicht ausgeweitet werden. „Es besteht sogar die Gefahr, dass der langfristige positive Trend bei den Forschungsausgaben nicht fortgesetzt wird, denn der Innovationsstandort Deutschland büßt weiter an Attraktivität ein“, warnte Wessel.
Im vergangenen Jahrzehnt stiegen die Forschungsetats der Branche durchschnittlich um 5 Prozent pro Jahr. Seit 2020 ist dieser Trend wegen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine gestoppt. Die Branche investierte 2021 rund 13,2 Milliarden Euro in FuE. Die Unternehmen konnten zwar verschobene Projekte nachholen. Das Niveau des Jahres 2019 wurde aber noch nicht wieder erreicht. Der Druck auf die Innovationsausgaben steigt weiter. Und die Hoffnung auf eine weitere Erholung ist verflogen.
Hoffnung weicht Sorgen
„Zudem bremsen hausgemachte Probleme den Innovationsprozess in Deutschland dauerhaft aus“, so Wessel. Laut aktueller VCI-Mitgliederumfrage bewerten 65 Prozent der Unternehmen die politischen Rahmenbedingungen für Forschung als negativ oder sehr negativ für ihre Innovationstätigkeit. Dabei könne die chemisch-pharmazeutische Industrie wichtige Beiträge leisten, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen – in der Energieforschung, bei neuen Materialien, in der Katalyse oder im Bereich Gesundheit und Biotechnologie. Wessel: „Eine Abwanderung von Forschungstätigkeit aufgrund schlechter Standortbedingungen ins Ausland muss die Politik verhindern, will Deutschland im Wettlauf um Forschungserfolge vorn bleiben und Wertschöpfungspotenziale nicht verspielen.“
Mit besonderer Skepsis sieht der VCI die Flucht des Staates aus FuE-Projekten mit Industriebeteiligung. Lag der staatliche Anteil 1995 noch bei 10,2 Prozent, waren es 2019 nur noch 3,2 Prozent. Im internationalen Ranking liegt Deutschland mit dieser Zurückhaltung auf einem der hinteren Plätze. Hintergrund ist, dass es kapitalintensive und risikoreiche Forschungsprojekte gebe, die die Möglichkeiten einzelner Unternehmen übersteigen. Für solche kapitalintensiven Projekte sollte der Staat einen Teil des Risikos tragen, indem er die staatlichen Fördermittel zu einem höheren Anteil als bisher für Verbundprojekte mit Industriebeteiligung ausgibt.
Genehmigungsverfahren als Bremsklotz
Gleichzeitig verwies der VCI darauf, dass die Wirtschaft seit vielen Jahren den Löwenanteil der Forschungsausgaben in Deutschland finanziert. Über zwei Drittel der Forschungskosten werden von den Unternehmen getragen – weniger als ein Drittel vom Staat. Der Chemieverband fordert daher, dass sich der Staat mehr engagiere, damit künftig 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden.
Ebenfalls kritisch bewertete Wessel die schleppenden Genehmigungsprozesse: Jede dritte Firma aus der Branche sieht in den „Genehmigungsverfahren für ihre Forschungsprojekte einen Bremsklotz“, sagte er. Um zukunftsträchtige Wertschöpfung am Industriestandort Deutschland zu ermöglichen, müssten die Unternehmen ihre Forschungsprojekte jedoch zügig in innovationsreife Produktion umsetzen können. Schließlich wolle die Branche klimaneutral und gleichzeitig unabhängig von russischem Gas werden. Doch bei vielen Forschungsprojekten fordern Behörden häufig ein förmliches Genehmigungsverfahren nach Bundes-Immissionsschutzgesetz – oft mit ungewissem Ausgang. Als Lösung sieht der VCI einen Genehmigungsprozess für Pilot- und Demonstrationsanlagen, bei dem die Beteiligung der Öffentlichkeit reduziert wird. Auch sollte mit der Politik geklärt werden, was Verfahren von „öffentlichem Interesse“ sind.
Weiter plädierte der VCI dafür, die Rahmenbedingungen für Start-ups zu verbessern. So sei eine Stärkung des deutschen Venture-Capital-Marktes weiterhin nötig, um den internationalen Rückstand bei den Investitionssummen in Zukunftstechnologien wettzumachen.