Prozessautomation & Messtechnik Informationen statt Daten

Bild: Siemens
18.08.2014

Komplexer werdende Prozessanlagen fordern das Bedienpersonal enorm heraus. Deshalb ist es wichtig, dass die relevanten Prozessinformationen vorliegen und die Anlagenzustände sowie Betriebsparameter einfach und übersichtlich in der Leitwarte dargestellt werden. Ein neuer nutzerzentrierter, grafischer Ansatz entlastet dabei den Anlagenfahrer.

Anlagenfahrer sind heute in den meisten Fällen weit mehr als nur klassische Prozessbediener. Neben der operativen Prozessführung gehören die Qualitätssicherung von Produkten, die Optimierung eingesetzter Ressourcen sowie das Aufrechthalten von hohen Durchsatzraten zu ihren Aufgaben. Um all dies zuverlässig zu erfüllen, sind qualifizierte Informationen nötig. Für deren Visualisierung ist die Mensch-Maschine-Schnittstelle (Human Machine Interface – HMI) des Prozessleitsystems zuständig. Den Schlüssel zu aufgaben- beziehungsweise situationsspezifischen Entscheidungsgrundlagen sieht Siemens in neuen HMI-Konzepten wie etwa Advanced Process Graphics (APG).

Intuitive Bedienung ist die Folge von gut gestalteten User Interfaces, die nicht die Möglichkeiten der Technik, sondern die Fähigkeiten der Benutzer in den Vordergrund stellen. Das sogenannte User Experience Design (UX Design) schließt das Nutzungserlebnis und die Benutzererfahrung der Anlagenfahrer in den Gestaltungsprozess von Bedienschnittstellen ein. Grundlegend bedeutet das, dass das Darstellungskonzept sich an den diversen Aufgaben der Bediener orientieren muss. Welche Informationen sind für welche Aufgaben überhaupt von Relevanz? Diese müssen anschließend so präsentiert werden, dass sie kontextbezogen in ausreichender Detailtiefe und unter qualitativen wie quantitativen Aspekten für den Operator erfassbar bleiben. Der Anwender sollte anhand der Informationen stets den Zustand der Anlage beziehungsweise die für seine Aufgabe wichtigen Anlagenteile im Blick haben und sichere Entscheidungen für sein Handeln treffen können. Beim Grafikdesign spielen unter anderem der Füllgrad, also das Verhältnis von mit Zeichen belegter Bildschirmfläche zur Gesamtfläche sowie Aufmerksamkeitslenkung und Konsistenz eine entscheidende Rolle.

Situationsbezogene Aufmerksamkeit bezieht mehrere Ebenen ein: Dem Operator muss bewusst gemacht werden, was momentan passiert, was das für seine konkrete Aufgabe bedeutet und welche Schlüsse er daraus für die nächsten Arbeitsschritte ziehen kann. Unter Konsistenz ist ein identisches Aussehen und Verhalten von Objekten bei der schematischen Abbildung einer Aufgabe zu verstehen. Das beinhaltet in erster Linie identische Darstellung, Verwendung einheitlicher Begriffe und Symbole sowie gleiche Bedienfolge und gleiches Verhalten.

Ergonomische Prozessvisualisierung

Basierend auf den Ansätzen der EEMUA-Publikation 201 und der VDI/VDE-Richtlinie 3699 hat Siemens bei der Entwicklung des Optionspakets APG den Benutzer und seine Aufgaben konsequent in den Mittelpunkt gestellt. Neben der Definition der Operatoraufgaben, die individuell für jede Anlage erfolgt, muss das Bedienpersonal frühzeitig in den Designprozess eingebunden werden. Anhand der Aufgaben und Prozesse wird ein durchgängiges und konsistentes HMI-Design erstellt, das sich durch Klarheit, Eindeutigkeit und Einfachheit auszeichnet. Das beginnt mit ganz simplen, aber effektiven Maßnahmen bei der Verwendung von Farben, Kontrasten, Formen und Verbindungen. Eine restriktive Verwendung der Farben rot und gelb für die Visualisierung von Alarmen und Grenz­werten auf ansonsten ruhigen und farblich dezent gehaltenen Prozessbildern erfüllt unter anderem die wichtigsten Anforderungen hinsichtlich gezielter Aufmerksamkeitssteuerung und eindeutiger Mustererkennung. Auf die Abbildung von Anlagenequipment in 3D-Darstellung wird ebenso verzichtet wie auf doppelte Farbbelegung: Rot signalisiert ausschließlich kritische Zustände und wird beispielsweise nicht für geschlossene Ventile verwendet.

Ebenso grundlegend, und dabei der VDI/VDE 2699-3 folgend, ist die hierarchisch organisierte Darstellung (Level 1 bis 4) von Grafikbildern nach Anlagenteil, Teilanlage, Anlagenbereich und Gesamtanlage. Dominierten bislang an der Instrumentierung ausgerichtete Level-3-Grafikbilder auf der Ebene von Teilanlagen die Monitore der Bedienmannschaften, richtet das APG-Konzept den Fokus auf Level-2-Bilder: informationsorientierte Übersichts- und Gruppendarstellungen, die den Operator mit allen für seine Aufgabe notwendigen Informationen versorgen. Level-2-Darstellungen aggregieren zusammengehörige Daten, die bislang durch Auswahlbedienungen der Anlagenfahrer aus mehreren Level-3-Bildern zusammengesucht, gemerkt und in ein Verhältnis gesetzt werden mussten. Bereits durch ihre Präsentationsform werden aus reinen Daten wertvolle Informationen.

Wie dieser Prozess funktioniert, verdeutlicht folgendes Beispiel: Analoge Benzinuhren geben den Kraftstoff-Füllstand in Fahrzeugen wieder. Ein numerischer Wert wie 40 l hingegen erlaubt keine Aussage über den Füllstand, so lange der Fahrer nicht weiß, wie viel Liter Benzin der Tank insgesamt fasst. Der Wert muss durch Bedienerleistung in ein Verhältnis gesetzt werden. Darüber hinaus ist eine Tankuhr mit einem Grenzwert ausgestattet: Die Reserveanzeige informiert den Fahrer, dass er tanken muss. Ein numerischer Wert wie 5 l statt 40 l, ohne die Visualisierung eines Grenzwerts, beansprucht mentale Arbeit, da der Fahrer wissen muss, dass mit fünf Litern Füllstand der Tank nahezu leer ist. Moderne Fahrzeuginformationssysteme bieten noch mehr als die analoge Tankuhr. So informieren sie unter Berücksichtigung des Füllstands und des Spritverbrauchs bei gegenwärtiger Fahrweise über die verbleibende Reichweite. Mit dieser Trend-Information kann der Fahrer Entscheidungen für den weiteren Fahrtverlauf treffen. Dieses Beispiel verdeutlicht den Sachverhalt an einem einzigen Wert. Ein Anlagenfahrer muss dutzende, teilweise sicherheitsrelevante Werte stets im Auge behalten – eine um ein Vielfaches höhere Belastung.

Anzeigekonzepte für mehr Information

Überträgt man dieses Beispiel auf die Prozessführung, so sind es Hybridanzeigen, Trendkurven und Kiviat-Diagramme, die dem Operator Informationen statt Daten liefern. Damit auf einen Blick erfasst werden kann, ob Messwerte innerhalb ihrer optimalen Arbeitsbereiche liegen, sind diese auch darzustellen. Dabei können die Balken/Säulen so skaliert sein, dass der Soll- beziehungsweise Optimalwert in der Mitte liegt und Abweichungen deutlich sichtbar werden. Für einen vorausschauenden Anlagenbetrieb ist eine andere Art der Informationsdarstellung geeignet: Trends in Form von Kurven. Das ist nicht grundlegend neu. Jedes Prozessleitsystem kann Trends ausgeben. Oft ist das allerdings mit viel Aufwand verbunden: Bediener müssen entsprechende Werte finden, sie ins Verhältnis zueinander setzen, den Maßstab definieren und vieles mehr. Wichtige Trends sollten in Level-2-Bildern dauerhaft sichtbar sein. Denn diese Darstellung von Messwerten im Verhältnis zur Zeit ermöglicht eine Fahrweise nach Sollbereichen und nicht nach Alarmen. Mit Hilfe der Trendanzeige lassen sich besser Aussagen über die nahe Zukunft treffen. Es ist ablesbar, ob ein Wert in die richtige oder falsche Richtung wandert. Eine Kombination von Trend- und Hybridanzeige sorgt beispielsweise bei Füllständen für noch mehr Übersichtlichkeit.

Spinnennetz für visuelle Erfassung

Mit steigender Erfahrung beruht die Beurteilung einer Situation auf der Wiedererkennung bestimmter Muster. Ein gutes Hilfsmittel sind sogenannte Kiviat-, Spinnen- oder Radar-Diagramme. Auf Achsen, die wie in einem Spinnennetz angeordnet sind, lassen sich mehrere Messwerte auftragen. Die einzelnen Punkte können durch Linien verbunden werden, die eine Fläche einschließen, deren Form und Größe beispielsweise Auskunft über eine auf mehreren Bezugsgrößen basierende Gesamtqualität geben. Diese Methode ist sehr visuell, man kann den Gesamtzusammenhang schnell erfassen und sich als Muster eingeprägt.

Der Einsatz von Advanced Process Graphics trägt durch anwenderorientierte Umsetzung vorgestellter sowie weiterer Methoden zur Verbesserung der Prozessvisualisierung bei. Das Konzept entlastet den Anlagenfahrer und sorgt dafür, dass trotz zunehmender Komplexität und Erweiterung der klassischen Bedieneraufgaben die Arbeit der Anlagenfahrer einfacher und effektiver wird. Statt Daten anzuzeigen, bietet APG aufgaben- und ziel­orientierte Informationen. Damit sorgt dieses HMI-Konzept in Simatic-PCS-7-Installationen für noch schneller einschätzbare Situationsübersichten und gesicherte Entscheidungen, weniger Fehlbedienungen sowie für höhere Produktqualität und Anlagenverfügbarkeit.

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