Engineering Mehr Modularität – weniger Linearität

Für durchgängiges Datenmanagement, digitale Anlagenabbilder und modulare Automation sind bestehende Denk- und Arbeitsprozesse zu hinterfragen.

02.05.2016

Um auf den Märkten von morgen wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen all ihre wertschöpfenden Prozesse digital vollziehen. Dieser radikale Wandel ist Herausforderung und Chance zugleich. Der Abschied von bekannten Verfahren, Produktionsweisen oder gar Geschäftsmodellen erfordert Investitionen, Innovationsbereitschaft und Mut. Doch durch die schrittweise erfolgende Einführung erster umfassender Ansätze zur Digitalisierung können Anwender schon heute davon profitieren.

Das Internet hat unser Leben in vielen Bereichen revolutioniert: nicht nur die Art und Weise, wie wir Bankgeschäfte tätigen, sondern auch, wie wir kommunizieren, arbeiten, uns informieren, ja selbst, wie wir neue Kontakte knüpfen. Auch unser Konsumverhalten hat sich radikal gewandelt und die Industrie reagiert darauf unter anderem mit einer zunehmend individualisierten Massenproduktion. Das erfordert es, die Flexibilität massiv zu steigern und Durchlaufzeiten drastisch zu reduzieren.

Gleichzeitig stellen heterogene globale Märkte und der möglichst effiziente Einsatz von Energie und Rohstoffen weitere Herausforderungen speziell an die Prozessindustrie. Mit welchen Maßnahmen Betreiber auf diese Anforderungen reagieren können, ist das Ziel einiger Forschungsprojekte wie zum Beispiel der F3-Factory oder der ENPRO-Initiative (Energieeffizienz und Prozessbeschleunigung für die Chemische Industrie). Letztere besteht aus vier Einzelverbundprojekten und einer von der Dechema koordinierten Vernetzung.

Die Siemens AG engagiert sich bei dieser Initiative im Einzelverbundprojekt „Modularisierung“ und sorgt hier – wie durch viele weitere interne und externe Forschungsprojekte – für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen.

Schon heute stellen Maschinenbauer oder OEMs (Original Equipment Manufacturer) einsatzbereite Applikationseinheiten, sogenannte Skids bzw. Package Units wie Dosier- oder Druckluftanlagen, Kühltanks etc., für Anlagenbetreiber zur Verfügung. Solche Einheiten sind einerseits für spezielle Anforderungen optimiert, gleichzeitig werden sie im Verbund mit anderen Anlagenteilen eingesetzt und müssen mit ihnen oder übergeordneten Systemen Daten austauschen.

Auf dem Weg zu „Plug-and-Produce“

Denkt man diesen Ansatz weiter, gelangt man zu einer Modularisierung auf der Basis funktionaler Einheiten. Anlagen werden aus einem Pool von standardisierten Komponenten zusammengestellt: Kolonnen, Dampferzeuger, Reaktoren, Pumpen usw.

Mit diesem Plug & Produce wird ein Höchstmaß an Flexibilität möglich und Betreiber könnten auf Nachfrageschwankungen durch sogenanntes Numbering-up, also das Vervielfältigen solcher modulbasierter Anlagen, schnell reagieren. Für ein solches Baukastensystem sind allerdings auch ganz neue Ansätze zur Projektierung und Automatisierung notwendig. Die Interessensgemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie Namur hat in ihrer Empfehlung NE 148 Grundlagen zur Modularisierung verfahrenstechnischer Anlagen definiert. Sie beschreibt sowohl die herstellerunabhängige Integration von Automatisierungskomponenten und HMI-Systemen in ein übergeordnetes Prozessleitsystem als auch die Interaktion der Module untereinander.

Einen ähnlichen Weg zeigt das White-Paper des ZVEI auf. Zustandsabhängige Steuerungsmodelle werden hier ebenso thematisiert wie das zugehörige Engineering und die Herausforderungen der modularen Automation für die HMI-Ebene sowie für die Sensorik und Aktorik.

Modulbasiertes Engineering vermeidet Fehler

Sämtliche Arbeiten zur modularen Automation sagen einen Paradigmenwechsel voraus. Denn nach heutiger Vorgehensweise würde der Tausch oder das Hinzufügen eines Moduls innerhalb einer Produktionskette eine Umprogrammierung der Automatisierung erforderlich machen. Sowohl der Zeitaufwand als auch die Fehleranfälligkeit eines solchen herkömmlichen Vorgehens stehen der geforderten Flexibilität diametral gegenüber.

Vielmehr wird in Zukunft eine modulbasierte Engineering-Software grundlegend für die Auswahl und die Verbindung der einzelnen Module zuständig sein. Einmal erstellte Engineering-Bausteine werden immer wieder verwendet. Des Weiteren ist der Einsatz von Standards ebenso dringend erforderlich wie eine gemeinsame Datenbasis und die notwendige Datendurchgängigkeit, beispielsweise durch eine einheitliche Schnittstellensemantik. Benötigt wird eine Plattform, die es erlaubt, sämtliche Engineering- und Automatisierungsdaten aller rund um den Globus verteilt arbeitenden Gewerke zu integrieren. Mit der bislang einzigartigen Integration des CAE-Tools Comos mit dem Prozessleitsystem Simatic PCS 7 ist das heute schon möglich.

Ein Baustein für die digitale Anlage der Zukunft

Modularisierung ist nur ein Baustein von vielen in Richtung digitaler Anlagen. Gleichermaßen tragen Themen wie Kommunikationsnetzwerke, Software-Infrastrukturen, Informationsmanagement, Industrial Security oder industrielle Dienstleistungen zum Gesamtbild bei. Auch für diese Themen bietet Siemens konkrete Ideen, Produkte und Lösungen.

Für den Bereich Prozessindustrie sind das unter anderem Strategien wie das sogenannte Defense-in-Depth-Konzept, das Siemens seit Jahren systematisch etabliert und sich dabei an der neuen Norm IEC 62443 orientiert. Oder neuartige Services wie die offene Plattform „MindSphere – Siemens Cloud for Industry“, welche Technologien von SAP HANA nutzt. Sie verzahnt physikalische Produkte und Produktionsanlagen mit digitalen Daten. MindSphere verbindet Geräte- und Anlagenmanagement mit einfacher Konnektivität und stellt die zugehörige sichere Infrastruktur für Datenspeicherung und -auswertung. So können spezielle Tools den Zustand von Maschinen und Anlagen beurteilen und optimieren. Das ermöglicht neue digitale Geschäftsmodelle für Industrieunternehmen sowie innovative Lösungen und bringt Produkte schneller, besser und effizienter auf den Markt.

Digitaler Zwilling wächst ständig mit

Die digitale Anlage ist damit längst keine Vision mehr, sondern steht Kunden schon heute zur Verfügung. Der Kern einer solchen Anlage besteht aus einer gemeinsamen Datenbasis, die alle Anlagenelemente in digitaler Form beinhaltet. Dabei stehen sowohl die Daten von Komponenten als auch die von Prozessen in enger Beziehung miteinander. Der „digitale Zwilling“, also das digitale Abbild der realen Anlage, entsteht in Softwarelösungen wie Comos ab den ersten Designstudien und wird mit jedem Planungsschritt komplettiert. In einer durchgängigen digitalen Prozesskette wächst der Zwilling über den gesamten Anlagenlebenszyklus ständig mit.

Gleichzeitig bilden die Daten die Grundlage für weitere Anwendungen. Zum Beispiel für die Simulationen der Automatisierungssysteme mit der Simulationsplattform Simit oder die Optimierung von Geschäfts- und Produktionsprozessen mit der Softwarelösung XHQ. Schließlich liefert der digitale Zwilling jederzeit sichere Entscheidungsgrundlagen bei Maintenance- oder Modernisierungsfragen.

Durchgängiges Datenmanagement, Simulation, digitales Anlagenabbild, cloudbasierte Services – für diese und viele weitere Aspekte bietet die Siemens AG heute schon Lösungen an. Dabei gilt für alle Themen dasselbe wie für die modulare Automation: Mit klassischen Ansätzen sind die Herausforderungen von morgen nicht zu meistern. Vorhandene Denk- und Arbeitsprozesse, entwickelte Lösungen oder bestehende Produkte sind kritisch zu prüfen, zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu erfinden.

Digitalisierung gibt es nicht „off the shelf"

Leider ist auch die dazu notwendige Technologie nicht umsonst zu haben. Investitionen in Ideen, Produkte und in die eigenen Mitarbeiter sind über viele Jahre unabdingbar. Unternehmen, Hersteller, Dienstleister und Anwender werden ­gleichermaßen gefordert sein. Digitalisierung gibt es nicht als „off-the-shelf“-Produkt, das einmal installiert wird und sich dann sofort nutzen lässt. Digitalisierung ist vielmehr als ­Prozess, aber nicht als Standardprozedur, für die es einen Königsweg geben wird, zu verstehen. Sicher ist lediglich eines: Es wäre ein Fehler, diesen Weg nicht oder nur zögerlich zu beschreiten.

Bildergalerie

  • IT-technische Standards wie TCP/IP und die Kombination von Simulations- und CAE-Tools, integriert in das Prozessleitsystem, gehören zu den ersten Ansätzen zur Digitalisierung.

    IT-technische Standards wie TCP/IP und die Kombination von Simulations- und CAE-Tools, integriert in das Prozessleitsystem, gehören zu den ersten Ansätzen zur Digitalisierung.

    Bild: Siemens

  • Wie viele Branchen muss auch die Prozessindustrie alle wertschöpfenden Prozesse digital vollziehen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben will.

    Wie viele Branchen muss auch die Prozessindustrie alle wertschöpfenden Prozesse digital vollziehen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben will.

    Bild: Monty Rakusen

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