Im Jahr 2014 entfielen 13 Prozent des gesamten Inputs, den die deutsche Chemieindustrie im Rahmen der Herstellung von Chemieprodukten einsetzt, auf digitale Produkte und Dienstleistungen. Dies haben das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und das Center für Wirtschaftspolitische Studien (CWS) im Auftrag des Verbands der chemischen Industrie (VCI) in der Studie Innovationsindikatoren Chemie 2018 ermittelt. Im Zeitraum 1996 bis 2014 wäre die Bruttowertschöpfung der deutschen Chemieindustrie ohne diesen Anstieg des Digitalisierungsanteils um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr schwächer gewachsen.
Mehr als eine Milliarde Euro für Digitalisierung
„Mehr als 80 Prozent der Chemie- und Pharmaunternehmen haben digitale Anwendungen im Produktions- und Vertriebsprozess eingesetzt: in Form einer digitalen Vernetzung innerhalb der Produktion, zwischen Produktion und Logistik sowie an den Schnittstellen zu Kunden und Lieferanten“, weiß Christian Bünger, Digitalisierungsfachmann des VCI. In den kommenden Jahren würden die meisten Unternehmen mehr als eine Milliarde Euro in Projekte zur Digitalisierung oder in neue digitale Geschäftsmodelle investieren.
„Derzeit gibt es zwei eng miteinander verbundene Bereiche, die für die Geschäftsmodelle pharmazeutischer Unternehmen dank der Digitalisierung stetig an Bedeutung und Attraktivität gewinnen“, ergänzt Andreas Aumann, Pressereferent beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Dies sei zum einen die direkte und schnelle Vernetzung der Akteure im Gesundheitssystem über digitale Lösungen wie beispielsweise Online-Portale und Apps sowie zum anderen die Auswertung und Nutzung gesundheitsbezogener Daten durch sie.
Akzeptanz digitaler Lösungen
Die Digitalisierung ist für die Pharma- und Chemieindustrie dabei nichts Neues. Neu ist die Abkehr von Insellösungen und der Stellenwert von Big Data als zusätzlicher neuer Rohstoff für die Wertschöpfung. Dazu kommt das Arbeiten in der Cloud. Viele Unternehmen wollen ihre Prozessdaten aber nach wie vor nicht außer Haus geben, obwohl laut Christian Bünger schätzungsweise 80 bis 85 Prozent der Prozesse unkritisch, also Cloud-fähig sind. Digitale Technologien versprechen vor allem Produktivitätsgewinne – beispielsweise durch die Einführung eines digitalen Supply-Chain-Managements oder durch den Einsatz eines digitalen Anlagenmanagementsystems und modularer Anlagen.
Entsprechend der spezifischen Konstellation praktiziert jedes Unternehmen seine eigene Strategie. Wie das im Bereich Recherche aussehen kann, zeigt Novartis mit seiner Nerve Live, einer neuen Datenanalyseplattform. Dr. Luca Finelli, Leiter der Predictive-Analytics-and-Design-Gruppe, will so den riesigen Datenpool des Unternehmens nutzen: „Wenn wir unsere Daten an einem Ort zusammenführen und die neuesten Computertechnologien nutzen, können wir neue Erkenntnisse gewinnen, die in der Vergangenheit nur schwer möglich waren.“
Mithilfe von Nerve Live können Benutzer in Echtzeit Informationen zu den annähernd 500 eigenen klinischen Studien abrufen und neue Studien planen. Voraussetzung für die verstärkte Akzeptanz solcher digitaler Lösungen in der pharmazeutischen Industrie ist die Sicherheit von Patientendaten in Form einer vertrauenswürdigen IT-Infrastruktur. Neue Ansätze, wie die Blockchain-Technologie, können helfen, das zu gewährleisten.
Jakob Wössner, Digitalisierungsexperte bei Weleda, lebt hier in anderen digitalen Welten: „Die Kunst in der Digitalisierung ist es, die richtige Balance von Basisarbeit und Fortschritt zu finden.“ So beginne es bei einem soliden Fundament aus Prozessen und Tools, durch das sich die Menschen auf die Bewältigung der digitalen Herausforderungen und Möglichkeiten konzentrieren können und so schließlich auch Freiraum entstehe, sich mit Innovationen im Digitalen zu beschäftigen.
Wie stark ist Weleda also schon digitalisiert? „Wir sind auf dem Weg. Wir verschaffen uns immer mehr Überblick über die nahezu offenen Möglichkeiten und gehen ein Thema nach dem anderen an“, erklärt Jakob Wössner.
Bei Covestro, einem Werkstoffhersteller mit Sitz in Leverkusen, denkt man in ganz anderen Dimensionen. „Grenzen verschieben, lautet hier das Motto“, so Stephan Krebber, Program Director Digitalization Production and Technology bei Covestro. Ein großes Projekt heißt Optimized System Integration bis 2020, kurz OSI2020. Das Ziel des Projekts lautet, Insellösungen zu eliminieren und durch eine durchgehende Digitalisierung ersetzen, um Fehler, beispielsweise bei der Instandhaltung, zu vermeiden.
Auch Augmented Reality hat man sich dafür bei Covestro schon angesehen; allerdings müsste dafür erst die Grundlage geschaffen werden. Der Werkstoffhersteller sei gerade mitten in der Digitalisierung. Einige Jahre werde es schätzungsweise noch dauern, bis alles läuft und man den ersten Nutzen sieht.
Einsatzorte identifizieren
„Digitalisierung ist kein Naturgesetz, sondern ein Gestaltungsthema“, resümiert Dr. Hendrik Hahn, Chief Digital Officer (CDO) von Evonik. Es gehe um die Frage, an welchen Stellen sie zuerst eingeführt wird, um einen möglichst großen Nutzen zu bringen. Oft sei dies nicht so einfach zu beantworten, da dies häufig damit verbunden ist, bereits eingeführte und etablierte Technik abzulösen und im Endeffekt abzuschreiben. Und genau dies könne Unternehmen unter Umständen zögern lassen.
Um solche Fragen zu klären, braucht man Freiraum. Und genau dafür wurde Evonik Digital gegründet. Rund 30 Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen von Evonik können hier sehr frei agieren und auch unkonventionelle Lösungen erproben. Das Unternehmen entwickelt neue digitale Geschäftsmodelle und baut gezielt digitale Kompetenzen auf. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Zusammenarbeit mit namhaften Technologieunternehmen und aussichtsreichen Start-ups.
„Solche finanziellen Vorleistungen können möglicherweise mittelständische Unternehmen abschrecken, aber andererseits haben diese im Vergleich zu großen internationalen Konzernen auch Chancen, sich bei Digitalisierungsthemen schneller und zu ihrem Vorteil zu fokussieren“, meint Hendrik Hahn. Es gibt weniger, parallele Baustellen und Prioritäten sind oft klarer erkennbar; der Großkonzern dagegen kann weltweit Impulse aufnehmen und nutzen.
„Man muss aber auch Lösungen für die Kleinen finden“, mahnt auf der anderen Seite Ivica Kolarić, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA an. Die Großchemie sei in der Digitalisierung sehr weit, da sie das Geld hat, um strategisch in Vorleistung zu gehen. Dies haben kleine und mittlere Unternehmen (KMU) meist nicht. Außerdem zeichne sich der Erfolg von Digitalisierungsprojekten nicht sofort ab und diese Durststrecke dämpfe die Investitionsbereitschaft.
In vielen Unternehmen stehen außerdem noch ältere Anlagen. „Da müssen Sensoren integriert werden, die in den Prozess eingreifen und im schlimmsten Fall können Anlagengarantien erlöschen“, weiß Ivica Kolarić. Folglich müsse die passende Technik eruiert werden, außerdem werde Kompetenz im eigenen Unternehmen benötigt. Ebenso dürfe der Explosionsschutz nicht außer Acht gelassen werden, der wiederum geeignete Sensoren und spezielle Elektronik verlangt.
In das Mindset investieren
Trotz der Vorteile warten viele Unternehmen noch ab: Die BASF, Evonik und Covestro haben wohl als einzige bisher nennenswerte Budgets für die Digitalisierung genehmigt. Dabei gilt durch die Bank, dass man nicht nur in Technik, sondern auch in ein neues Mindset investiert. Das heißt, die Mitarbeiter müssen überzeugt und trainiert werden.
Wichtig ist ebenfalls, die Produkte mit einem digitalen Service zu verbinden, denn dieser ist so wertvoll wie das Produkt. In der chemischen Industrie kommt dazu, dass sowohl Lieferanten als auch Kunden Chemieunternehmen sind und somit auch gleichzeitig Wettbewerber sein können, die intelligent eingebunden werden müssen.