Herr Hortig, seit Februar leiten Sie die lokale Business Unit Öl, Gas und Petrochemie - wenn man so will das deutsche Chemie-Geschäft bei ABB. Was ist dessen Besonderheit?
Die Prozessautomatisierung ist neben der Verfahrenstechnik ein zentraler Bestandteil der Anlagentechnik. Sie sorgt für Sicherheit und Verfügbarkeit einer Produktionsanlage und steht daher immer im besonderen Fokus des Betreibers. Und - ganz wichtig - sie „lebt“ während des gesamten Anlagenlebenszyklus. Sie muss gepflegt und weiterentwickelt werden. Wir betrachten uns daher nicht nur als Lieferanten - und schon gar nicht als Produktbereitsteller, sondern als Partner für die chemische Industrie. Nur wenn wir deren Anlagentechnik tief genug verstehen, können wir gemeinsam maßgeschneiderte Lösungen entwickeln. Eine weitere Besonderheit resultiert aus der Matrix-Organisation der ABB: Wir sind über unsere Einbettung in die globale Business Unit Öl, Gas, Petrochemie Teil eines starken Verbunds und spiegeln damit die ebenfalls globale Aufstellung einer großen Zahl unserer Chemiekunden und des Chemiegeschäfts an sich. Als lokale Einheit konzentrieren wir uns gleichzeitig auf die Bedürfnisse unserer Kunden in Deutschland und seiner Nachbarländer. Aber: Wir begleitenunsere Kunden auch in andere Länder, wenn dies sinnvoll und gewünscht ist.
Die ersten 100 Tage im Amt haben Sie beinahe hinter sich gebracht. Was hat Sie besonders beschäftigt?
ch habe zunächst sehr viele Gespräche mit Kunden und Mitarbeitern geführt. Beide waren und sind für mich die wertvollsten Informationsquellen, um meine Aufgabe nach möglichst kurzer Zeit ausfüllen zu können. Ich denke, es gibt die berechtigte Erwartung, dass ich dort, wo es Potenzial gibt, auch Veränderungen vorantreibe. Das geht nur auf der Basis einer eigenen Einschätzung der Situation, und die bilde ich mir im direkten Gespräch. Kein Unternehmen kann dieses umfassende Wissen anders speichern als in seinen Mitarbeitern. Keine Kundendatenbank kann bieten, was ein Termin vor Ort bietet. Natürlich war ich dafür auch viel unterwegs in den letzten Wochen, denn meine Einheit ist regional sehr verteilt. Allerdings ist dadurch auch die Nähe zu unseren Kunden groß - geographisch und im übertragenen Sinne. Das ist ein wichtiges Erfolgskriterium. Wir streben Kundenbeziehungen an, die nicht nur vertrieblich sind, sondern einer Begleitung während des Betriebs über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte entsprechen. Ich kann zusammenfassen, dass mein erster Eindruck schon sehr positiv war: sehr kompetente und motivierte Teams mit der richtigen Mischung verschiedener Erfahrungshintergründe. Eine starke Wurzel in der erfolgreichen Hartmann-&-Braun-Vergangenheit des Bereichs gepaart mit der Dynamik eines durch und durch globalen Technologieunternehmens. Und um das jetzt wieder zu erden: Nicht zuletzt freue ich mich immer wieder, wenn ich in einer solchen Organisation auch die regionalen Prägungen der Mitarbeiter von Nord bis Süd und Ost bis West sehe. Menschlich macht das unsere Zusammenarbeit reicher. Ein weiterer wesentlicher Punkt war für mich zu verstehen, wie wir unseren Kunden das große ABB-Portfolio an Produkten und Dienstleistungen über die Automatisierungstechnik hinaus nutzbringend und möglichst einfach erschließen können. Denn die Verknüpfung aller ABB-Kompetenzen, also auch in benachbarten Themenbereichen wie Schaltanlagen und Antriebstechnik, bedeutet für unsere Kunden einen Mehrwert.
Sie kommen von einem EPC-Unternehmen. Wollten Sie der Misere im Großanlagenbau entfliehen und haben daher die Seiten gewechselt?
(schmunzelt) Jedem, der weiß, dass ich von Linde gewechselt habe, ist vermutlich klar, dass es keine Misere sein kann, die mich dort hätte wegtreiben können. Linde schlägt sich mehr als beachtlich. Wenn mich dort also nichts weggetrieben hat, liegt der Schluss nahe, dass mich ABB umso stärker gezogen hat. ABB ist ein globales, sehr innovatives Technologieunternehmen und damit für mich persönlich sehr attraktiv. Und die Aufgabe, um die es hier geht, bietet mir den Gestaltungsspielraum, den ich brauche, um den Erwartungen an einen profitabel wachsenden Geschäftsbereich gerecht zu werden. Letztendlich das, was mich schon immer beruflich angetrieben hat. Ich sehe daher in dieser Motivation Kontinuität und definitiv keinen Seitenwechsel.
Das legt die Frage nahe: Gibt es etwas, dass Sie gerne lieber heute als morgen bei ABB ändern möchten?
Ich habe mir für die erste Zeit eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Erst einmal heißt es, die Analyse abzuschließen, bevor ich mich von Impulsen oder unreflektiert von vorherrschenden Meinungen leiten lasse. Ich will hinter meinen Entscheidungen stehen können, auch wenn das etwas mehr Zeit braucht als Schnellschüsse. Das ist mein Naturell - und es hat sich immer ausgezahlt. Zügig die Dinge angehen ja, Schnellschüsse nein.
Wo soll die LBU OGP in drei Jahren stehen - und müssen Sie dazu eher technologisch oder eher organisatorisch etwas bewegen?
Ich möchte auf jeden Fall unseren Blick über die Prozessautomation hinaus weiten und diese weiter gefasste Kompetenz auch bei unseren Kunden stärker ins Bewusstsein bringen. Wir können schließlich aus einem großen ABB-Portfolio schöpfen. Mir ist in den ersten Wochen sehr viel Offenheit und Kooperationsbereitschaft in der gesamten ABB-Organisation begegnet. Das Können und Wollen ist also da - jetzt kommt das Tun. Gerade in Deutschland sehe ich ein großes Potenzial darin, den Service auszubauen. Dafür müssen wir unseren Blick noch stärker vom Produktfokus auf die Betreiberperspektive ausrichten. In drei Jahren wollen wir sagen können: Wir sind der Anbieter in der Prozessautomation, der für herausragende partnerschaftliche Unterstützung seiner Kunden steht, der sie nicht reaktiv betreut, sondern die notwendige Kompetenz in der Anlagentechnik des Kunden hat, um Optimierungspotenzial proaktiv zu erschließen. Auf dem Weg dorthin ist der organisatorische Aspekt aus meiner Sicht für uns heute noch wichtiger als der technologische. Aber auch die richtige Organisation ist neben der technologischen Stärke nur eine Voraussetzung. Vor allem muss in unserem Bewusstsein die Frage verankert sein: „Was soll unser System, unsere Dienstleistung für den Kunden leisten?“ Aber zunächst müssen die Ideen und Vorstellungen in unsere Köpfe hinein. Wir sollten hier durchaus auch einmal zulassen, dass in unseren Köpfen Bilder entstehen, wenn wir uns fragen: Wie soll das in Zukunft für unsere Kunden sein - wie wollen wir dort auftreten und was wollen wir leisten können? Ich will jetzt kein ganz großes Wort verwenden �?�
Sie meinen das Wort Vision.Es hat an der Stelle wohl seine Berechtigung. Erfolg wird leichter erreichbar, wenn sich jeder mit den Zielen identifiziert. Ich habe schon erlebt, wie es sich auswirkt, wenn man intern solche Visionen kommuniziert und vorlebt. Das ist kein „upload“, eher Diffusion - und Diffusion braucht Zeit. Keine Präsentation und kein Rundschreiben bewirkt Veränderungen von einem Tag auf den anderen. An der Stelle bin ich persönlich gefordert.Was sind die wichtigsten Unterschiede zu anderen Prozessautomatisierern?
Wir glauben, dass eine reine Differenzierung über das Produktportfolio nicht ausreicht. Auch wenn ich persönlich von der Überlegenheit unserer Prozessautomationslösungen überzeugt bin, ist es nicht die Summe aller Features, die am Ende für den Kunden entscheidend ist. Vielmehr ist es unsere Fähigkeit, das Wesentliche aus Sicht des Anwenders zu erkennen und zuverlässig umzusetzen, die uns den entscheidenden Wettbewerbsvorteil bringt. Und das gilt, wie bereits vorhin angedeutet, nicht nur für das Neugeschäft, sondern es geht schließlich um die jahrelange Begleitung der Kundenanlagen. Wie wir uns hier bewähren, wird zu unserem stärksten Argument.
Wenn man in den vergangenen Jahren von ABB gehört hat, ging es meist um Energie und Smart Grid. Berührt das Thema „moderne Energie“ auch Ihre Einheit?
Unsere Kunden sind sehr direkt davon betroffen. Ich habe kürzlich mit einem Mittelständler gesprochen, bei dem die Energiekosten im vergangenen Jahr erstmals nicht mehr einfach absorbiert werden konnten, sondern stark auf das Ergebnis durchschlugen - was ihn zu deutlichen Preiserhöhungen gezwungen hat. Der Faktor Energie wird zu einem der wichtigsten Kriterien bei Standortentscheidungen. Ich meine: Wir brauchen in Deutschland auch in Zukunft eine starke Chemieindustrie. Bei vielen hochwertigen Produkten ergibt es einfach keinen Sinn, sie durch die halbe Welt zu transportieren. Das gilt im Besonderen für Spezialitäten und bei starken lokalen Absatzmärkten. Gleiches gilt auch für Produkte, die entsprechende Dokumentationen und Zertifizierungen erfordern, für die also ein entsprechendes industrielles Umfeld unabdingbar ist. Deutschland muss es schaffen, diese Industrie im Land zu halten. ABB liefert durch seine Energietechnik-Produkte und -Systeme einen wichtigen Beitrag. Das wirkt sich auch auf uns als Geschäftsbereich Prozessautomation aus. Denn Investitionen für die Ertüchtigung von Anlagen und die Verlängerung der Lebensdauer werden nur getätigt, wenn es sich auch in absehbarer Zukunft noch rechnet. Wir können Anlagen im Hinblick auf Energieeffizienz optimieren, die Optimierung quantifizieren und so betriebswirtschaftliche Entscheidungen unterstützen. Dazu kommt die Energieversorgungssicherheit - ein sehr wichtiges Kriterium für die Chemie in Deutschland. Wir wollen mit unseren Automatisierungskunden auch über diese Themen reden und zeigen, welche Lösungen mit ABB möglich sind. Die Unterscheidung in ABB-Einheiten spielt hierbei dann keine Rolle. Hierdurch können auch wir viel zur Zukunftssicherung des Industriestandorts Deutschland beitragen