Leitfaden zur Auswahl von Elastomerdichtungen Augen auf bei der Werkstoffwahl

Um einen geeigneten Elastomerdichtungswerkstoff auswählen zu können, ist es notwendig, unter anderem den Einsatztemperaturbereich festzulegen, in dem die Dichtung verwendet werden soll.

Bild: Dall-E, publish-industry
21.05.2024

Im Maschinenbau sind hohe Anforderungen an Effizienz, Dichtigkeit und Zuverlässigkeit entscheidend. Dies gilt auch für Dichtungen, die hier verwendet werden. Die Auswahl geeigneter Elastomer-Dichtungswerkstoffe stellt Anwender jedoch vor Herausforderungen, da sie aus einem breiten Produktangebot verschiedener Lieferanten den passenden Werkstoff für ihre Anwendung auswählen müssen. Unterschiedliche Typen, Härtegrade und Merkmale erschweren die Entscheidung.

NBR, EPDM, FKM und viele mehr – es gibt verschiedene Elastomer-Werkstoffe, die für Dichtungsaufgaben Anwendung finden. Wichtig: Ein Dichtungswerkstoff besteht nicht nur aus dem sogenannten Basis-Elastomer oder, genauer gesagt, Kautschuk, sondern auch aus noch diversen zusätzlichen Mischungsbestandteilen, wie zum Beispiel Füllstoffe, Verarbeitungshilfsstoffe und Vernetzer. Der Kautschuk ist aber der bestimmende Parameter beim Dichtungswerkstoff, aber auch die übrigen Mischungsbestandteile können einen wesentlichen Einfluss in der Anwendung haben.

Einsatztemperaturen

Um einen geeigneten Elastomerdichtungswerkstoff auswählen zu können, ist es notwendig, den Einsatztemperaturbereich festzulegen, in dem die Dichtung verwendet werden soll. Denn die Elastomer-Werkstoffe unterscheiden sich wiederum in ihrem Temperautbereich. Bei Kontakt mit einem anderen Medium – unabhängig, ob flüssig oder gasförmig – können sich die zulässigen Einsatztemperaturen teilweise deutlich ändern. Dies gilt es bei der Auswahl nach einem geeigneten Dichtungswerkstoff unbedingt zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Obwohl ein Standard-FKM-Werkstoff eine maximale Einsatztemperatur von 200 °C aufweist, ist dieser Werkstoff bei Abdichtung gegenüber Wasserdampf nur bis zu etwa 120 °C einsetzbar. Oberhalb dieser Temperatur würde dieser Werkstoff über die Dauer chemisch angegriffen und würde seine Dichtfunktion durch Verhärtung verlieren.

Medienkontakt

Der nächste wichtige Parameter zur Werkstoffauswahl ist die Klärung über das abzudichtende Medium beziehungsweise die Medien, wobei diese flüssig als auch gasförmig sein können. In erster Linie muss definiert werden, gegenüber welchem Medium abgedichtet werden soll. Zusätzlich muss auch geklärt werden, ob noch zusätzliche Medien mit dem Dichtungswerkstoff in Berührung kommen können, beispielsweise Reinigungsmittel in Produktionsanlagen der Lebensmittelindus­trie oder Medien, mit denen der Dichtungswerkstoff vor der Montage gereinigt oder gefettet wird. Häufig ist auch noch eine Angabe über die Medienkonzentration notwendig (zum Beispiel bei Säuren oder Basen) sowie eine Angabe über die Zusammensetzung, beispielsweise bei Hydraulikfluiden. Wichtig ist die Beachtung der auftretenden Temperatur, da mit zunehmender Temperatur meist auch die Aggressivität des Mediums ansteigt. Wasser beispielsweise weist bei Raumtemperatur (20 °C) keine größeren Beständigkeitsprobleme mit den üblichen Dichtungswerkstoffen auf, doch mit ansteigender Temperatur führt es bei einigen Compounds zu starken Problemen. Ein Standard-NBR-Dichtungswerkstoff ist gegenüber Wasser bei 80 °C nicht mehr beständig.

Wenn alle Medien bekannt sind, mit denen die Dichtung in Kontakt kommen kann, erfolgt die Auswahl eines geeigneten Werkstoffs. Zur ersten groben Abschätzung bieten sich hierfür sogenannte Beständigkeitstabellen an, die in der Regel bei jedem Lieferanten frei erhältlich sind. Diese sind allerdings meist nur sehr allgemein gehalten und beziehen sich überwiegend auf das verwendete Basis-Elastomer (Kautschuk). Die übrigen Mischungsbestandteile bleiben dabei unberücksichtigt, obwohl auch sie einen wesentlichen Einfluss haben können. So können einige Medien, zum Beispiel einen Weichmacher aus dem Dichtungswerkstoff herauszulösen, wodurch es zu einer Versprödung und damit verbunden Undichtigkeit der Dichtung kommen kann, obwohl gemäß Beständigkeitstabelle der Kautschuk als beständig eingestuft wurde. Darüber hi­naus liegt die Temperatur des abzudichtenden Mediums – wenn nichts anders vermerkt – bei Raumtemperatur, was in einer Anwendung eher die Ausnahme darstellt.

Außerdem gibt es genormte anwendungsspezifische Beständigkeitslisten, in denen zu den Basis-Elastomeren und Medien auch die dazugehörige maximale Einsatztemperatur aufgeführt ist. Beispiele hierfür sind die DIN 11483-2 für Lebensmittelanwendungen und die ISO 6072 für Hydraulikanwendungen. Eine weitere Möglichkeit sind spezielle Beständigkeitslisten oder Firmen-interne Datenbanken, die neben den allgemein zugänglichen Beständigkeitstabellen bei einigen Herstellern verfügbar sind. Gute Ergebnisse für den Anwender liefern Einlagerungs- oder besser noch Praxisversuche, die aber in der Regel sehr zeit- und kostenaufwendig sind.

Mechanische Eigenschaften

Sind Medien und Einsatztemperaturen definiert, muss auch eine eventuelle mechanische Beeinflussung des Werkstoffs geklärt werden, die beispielsweise aufgrund der Einbausituation beziehungsweise der Anwendung auftreten kann. Beispielsweise spielt bei einer Hochdruckanwendung nicht nur die Beständigkeit gegen das Medium und die Einsatztemperatur eine Rolle, sondern auch der Widerstand gegen den auftretenden hohen Druck. Je höher dieser Druck ist (zum Beispiel 350 bar), desto höher muss auch die Härte des Elastomerwerkstoffs sein (beispielsweise 90 Shore A), um einen vorzeitigen Dichtungsausfall durch Spaltextrusion vorzubeugen. Weitere mechanische Beeinflussungen, auf die der Elastomer-Werkstoff richtig ausgelegt werden muss, sind Abriebfestigkeit bei dynamischen Anwendungen oder hohe innere Festigkeiten bei Anwendungen, mit plötzlichem starkem Druckabfall. Auch gute Dehnungseigenschaften, wenn die Dichtung bei der Montage konstruktionsbedingt stark gedehnt werden muss, können eine signifikante Rolle bei der Werkstoffauswahl bedeuten.

Freigaben/Zulassungen

In einigen Branchen ist es erforderlich, die Eignung des Elastomer-Werkstoffs zusätzlich noch mit einer Freigabe beziehungsweise Zulassung zu belegen, zum Beispiel Anwendungen im Bereich Trinkwasser, Lebensmittel, Pharmazie oder Gasversorgung. Werkstoffe, die einer Freigabeprozedur unterliegen, weisen zum Beispiel Beschränkungen bei der Verwendung von Mischungsbestandteilen auf (Lebensmittel, Pharma), müssen über bestimmte physikalische Eigenschaften verfügen (Gasversorgung) oder spezielle Prüfkriterien erfüllen (Sauerstoffanwendung). Die Eignung dieser Dichtungswerkstoffe ist mit einem entsprechenden Zeugnis zu belegen.

Einbauräume

Der notwendige Einbauraum ist bei der Auswahl von Elastomer-Werkstoffen, auch bezogen auf O-Ringe, ebenfalls von Bedeutung. Als Standard-Einbauraum ist die Rechtecknut nach DIN ISO 3601-2 anzusehen, die bezogen auf die Schnurstärke die Werte für Breite und Tiefe des Einbauraums definiert. Da­raus ergeben sich die Werte für die notwendige Verpressung des O-Rings sowie der entsprechende Füllgrad der Nut. Bei Anwendung dieser Norm ist eine konstruktiv sichere Abdichtung mit O-Ringen in Standard-Anwendungen gewährleistet. Abweichungen von diesen rechteckigen Einbauräumen sind möglich und teilweise auch notwendig. So werden zum Beispiel in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie spezielle, sogenannte hygienegerechte Einbauräume verlangt, die nur eine sehr geringe Ausdehnung des Dichtungswerkstoffs zulassen. Solche Einbauräume sind unter anderem in der DIN 11864 oder der DIN 11853 genormt.

Anhand von zwei unterschiedlichen Branchen soll nachstehend kurz erläutert werden, wie bei der Auswahl eines optimalen Dichtungswerkstoffs vorgegangen werden sollte:

Branche: Lebensmittelindustrie

Es soll ein Dichtungswerkstoff für eine Armatur gefunden werden, die in einer Molkerei verwendet werden soll, in der Milch bei 20 °C abgefüllt wird. Die Anlage soll täglich mit vierprozentiger Natronlauge über 20 Minuten bei 80 °C gereinigt und über 30 Minuten mit Dampf bei 121°C sterilisiert werden. Eine FDA-Konformität des Dichtungswerkstoffes wird gefordert.

Unter den genannten Voraussetzungen wären verschiedene Elastomer-Werkstoffe verwendbar. Aufgrund von Erfahrungswerten würde für diese Anwendung ein spezieller Peroxidvernetzter EPDM-Werkstoff mit einer Nennhärte von 70-75 Shore A zum Einsatz kommen. Dieser muss der FDA-Verordnung 21 CFR 177.2600 entsprechen, was bedeutet, dass nur zugelassene Mischungsbestandteile verwendet werden dürfen und mit dem Werkstoff zusätzlich noch Extraktionsversuche in Wasser und n-Hexan als Lebensmittelsimulanzien durchgeführt und bestanden wurden.

Branche: Gasversorgung

Es soll ein Dichtungswerkstoff gefunden werden, der in einem Ventil eingesetzt wird, welches sich als Auf-/Zu-Stellorgan in der Erdgasleitung befindet. Bei dem Medium handelt es sich um Erdgas mit Anteilen von Schwefelwasserstoff von bis zu fünf Prozent bei einer Temperatur von maximal 60 °C. Der in der Erdgasleitung auftretende maximale Druck beträgt 300 bar, der beim Schließen des Ventils innerhalb von wenigen Sekunden auf Umgebungsdruck abfallen kann. Eine Werkstoff-Freigabe nach DIN EN 682 wird aufgrund des Einsatzes in einer Erdgasleitung gefordert.

Aufgrund des Anteils von Schwefelwasserstoff reduziert sich die Werkstoffaus-wahl bereits erheblich. Da beim Schließen des Ventils mit einem starken Druck-abfall von 300 bar auf etwa 1 bar gerechnet werden muss, muss der Dichtungswerkstoff eine sehr hohe mechanische Festigkeit aufweisen, um der plötzlichen Gasentspannung im Werkstoff standzuhalten. Im Fachjargon spricht man hier von einer Beständigkeit gegen „Explosive Dekompression“.

Aufgrund der gemachten Erfahrungen würde für diese Anwendung ein speziell formulierter, Peroxid-vernetzter FKM-Werkstoff mit einer Nennhärte von 90 Shore A und einer Beständigkeit gegen „Explosive Dekompression“ in Frage kommen. Dieser müsste zusätzlich noch nach der Erdgas-Norm DIN EN 682 geprüft und zugelassen sein. Beim Einbauraum würde man sich an die Norm ISO 3601-2 für axiale Einbauräume anlehnen, wobei die Werte für die Verpressung des O-Rings und der Füllgrad des Einbauraumes zu optimieren sind, da es sich hierbei um keine Standard-, sondern um eine sehr spezielle Anwendung handelt.

Fazit

Unsere jahrzehntelange Erfahrung als Dichtungshersteller bei C. Otto Gehrckens zeigt, dass es sich bei der Auswahl eines geeigneten Dichtungswerkstoffes um eine sehr komplexe Aufgabe handelt. Diese wird gleichermaßen durch die Vielzahl an anwendungsspezifischen Parametern, die auf den Dichtungswerkstoff einwirken können und auch durch die Vielzahl von unterschiedlichen Elastomeren und deren Formulierungen erschwert. Weiter erschwerend ist für den Anwender, dass die Formulierungen hinsichtlich ihrer Zusammensetzung keiner Norm unterliegen und jeder Hersteller mehr oder weniger frei in der Werkstoffgestaltung ist.

Viele Fragen zur Werkstoff-Auswahl von Elastomer-Dichtungswerkstoffen lassen sich nicht ohne Weiteres alleine beantworten, weil die Formulierungen, aus denen diese Werkstoffe bestehen, individuell zusammengesetzt sind und keiner Norm unterliegen. Daher sollte der Anwender bei kritischen Einsatzgebieten stets eine enge Zusammenarbeit mit dem Lieferanten beziehungsweise Hersteller der Elastomer-Dichtungswerkstoffs anstreben. Erst bei Berücksichtigung aller notwendigen Anwendungsparameter, ist eine optimale Werkstoff-Auswahl für den jeweiligen Anwendungsfall möglich.

Bildergalerie

  • Verhalten eines O-Rings im Einbauraum unter Druck: Je höher dieser Druck ist, desto höher muss auch die Härte des Elastomerwerkstoffs sein.

    Verhalten eines O-Rings im Einbauraum unter Druck: Je höher dieser Druck ist, desto höher muss auch die Härte des Elastomerwerkstoffs sein.

    Bild: C. Otto Gehrckens

  • Darstellung eines hygienegerechten Einbauraumes (DIN 11862, DIN 11853): Der notwendige 
Einbauraum ist bei der Auswahl von Elastomer-Werkstoffen ebenfalls von Bedeutung.

    Darstellung eines hygienegerechten Einbauraumes (DIN 11862, DIN 11853): Der notwendige
    Einbauraum ist bei der Auswahl von Elastomer-Werkstoffen ebenfalls von Bedeutung.

    Bild: C. Otto Gehrckens

  • O-Ring ist nicht gleich O-Ring - sie haben die unterschiedlichsten Eigenschaften.

    O-Ring ist nicht gleich O-Ring - sie haben die unterschiedlichsten Eigenschaften.

    Bild: C. Otto Gehrckens

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