Dr.-Ing. Werner Kraus ist mit diesem Beitrag im A&D-Kompendium 2020 als einer von 100 Machern der Automation vertreten. Alle Beiträge des A&D-Kompendiums finden Sie in unserer Rubrik Menschen .
Als ich 2009 mit dem Griff-in-die-Kiste in Berührung kam, sah es wirtschaftlich in Deutschland und der Welt düster aus. Die Finanzkrise hatte deutliche Spuren hinterlassen und der ifo-Geschäftsklimaindex einen Tiefpunkt erreicht.
Zusammenarbeit zahlte sich aus
Die Technologien für den Griff-in-die-Kiste, vornehmlich effiziente Objekterkennungsverfahren, steckten damals noch in den Kinderschuhen. 2007 zum Patent angemeldet, zeigte das Fraunhofer IPA ein Jahr später eine damit umgesetzte Anwendung auf der Messe Automatica. Während Griff-in-die-Kiste-Zellen heute verbreitete Exponate sind, war unseres zu dem Zeitpunkt noch eine Seltenheit. Zur gleichen Zeit hatte unsere Forschergruppe erstmals Kontakt mit der Firma Liebherr-Verzahntechnik. Und was hat nun der Griff-in-die-Kiste mit Liebherr und das Ganze mit der Krise zu tun?
Weil es eine wirtschaftlich schwierige Zeit war, plante Liebherr, sich strategisch neu auszurichten. Sie wünschten, nicht mehr ‚nur‘ Maschinenhersteller zu sein, sondern wollten sich zum Gesamtlösungsanbieter wandeln, nicht mehr ‚nur‘ Verzahnmaschinen verkaufen, sondern eine gesamte Fertigungszelle. Darin sollte ein Roboter die Bauteile der Maschine anreichen und sie nach der Bearbeitung dem nächsten Schritt im Prozess zuführen. Eine Paradeanwendung für die Griff-in-die-Kiste-Technologien. Allein, der Erfolg war zunächst nicht selbstverständlich und erfolgreiche Automation „macht“ sich eben (noch) nicht automatisch.
Doch die jahrelange Zusammenarbeit zwischen Liebherr und dem Fraunhofer IPA hat sich ausgezahlt und das erfüllt mich mit Freude. Gemeinsam gingen wir durch schwierige und erfolgreiche Zeiten und erarbeiteten Meilensteine. 2010 gab es den ersten „Proof of Concept“ einer Roboterzelle, die die Bauteile wie von Liebherr gewünscht handhaben konnte. Ein Jahr später folgte die erste Realisierung für semi-chaotisch, 2013 für vollständig chaotisch gelagerte Bauteile.
Weichen für die Zukunft gestellt
Wir alle waren damals euphorisch und glaubten, der Technologietransfer in die Industrie sei gelungen. Die Auszeichnung mit dem „handling“-Award bestätigte dies zunächst. Aber: Einmal „gemacht“ genügt nicht immer. Hürden taten sich auf, als es darum ging, die erarbeitete Lösung zu skalieren. Wir wollten den Griff-in-die-Kiste in einem anderen Projekt einsetzen, um Pleuel auf ein Montageband zu legen.
Aber die Geschwindigkeit stimmte nicht. Wir sind drangeblieben, haben für die Abnahme der Zelle gekämpft und dies auch geschafft. Die dadurch gewonnenen Kenntnisse konnten wir gleichzeitig für die Liebherr-Anwendung nutzen und diese weiter verbessern. Außerdem haben wir eine grafische Bedienoberfläche entwickelt, um die Software nutzerfreundlicher zu machen.
2017 gewann Liebherr mit dieser Griff-in-die-Kiste-Lösung den „Best-of-Industry“-Award. Und seit vergangenem Jahr ist unsere Technologie im Produktportfolio bei Liebherr auch für weitere Roboterintegratoren als Technologiepaket „LHRobotics“ verfügbar. Beide Partner profitieren vom IP-Transfer. So „machen“ wir Automation: Technologien kundenspezifisch entwickeln, stets verbessern und nachfassen, Hürden systematisch überwinden und gemeinsam den Weg bis zum Ziel gehen.
Liebherr machte damals in Krisenzeiten den richtigen Schritt und stellte Weichen für die Zukunft. Und auch wir arbeiten schon seit ein paar Jahren am Griff-in-die-Kiste der Zukunft: mehr Autonomie, bessere Taktzeiten, größere Robustheit dank Verfahren des maschinellen Lernens. Wir machen weiter – machen Sie mit?