Digitale Wartung Datenbrillen unterstützen Techniker

Dr. Patrick-Benjamin Bök und sein Team der „Global Factory Digitalization & Intelligence“ erhoffen sich Zeit- und Flexibilitätsgewinne durch AR-Anwendungen mit der Datenbrille.

Bild: Picture Alliance
24.09.2018

Bisher benötigten Servicetechniker in den meisten Fällen ausgedruckte Wartungsunterlagen. Sie sind zwar informativ, aber im Einsatz oftmals unpraktisch. Mit Virtual, Assisted und Augmented Reality eröffnen sich für die Techniker nun völlig neue Möglichkeiten.

In der industriellen Fertigung potenzieren sich die Herausforderungen. Selbst Spezialisten können hochautomatisierte Maschinen nur mit Hilfe eines Handbuchs warten oder umrüsten – wobei sich unter der Bezeichnung Handbuch in der Regel mehrere Ordner verbergen. Schon beim einfachen Zusammenbauen eines Möbelstücks fehlt oft die dritte Hand zum Jonglieren mit Bauteil, Werkzeug und Anleitung. Dazu kommt das räumliche Umdenken, wenn sich Zeichnung und reale Welt aus unterschiedlichen Perspektiven präsentieren. Steht eine Maschine still, herrscht zusätzlich noch enormer Zeitdruck. Schon in den 90er-Jahren gab es deshalb erste Versuche, Bediener mit Datenbrillen auszurüsten. Die Technik war jedoch sehr unhandlich und teuer. Das hat sich inzwischen geändert.

Virtual, Assisted und Augmented Reality

Um das Potenzial für die Industrie zu verstehen, muss man die verschiedenen Datenbrillen-Typen unterscheiden: VR-Brillen (Virtual Reality) schirmen den Anwender komplett ab. Über zwei Monitore wird eine dreidimensionale, realistische oder fantastische Umgebung simuliert. Sensorik erfasst hierfür Aktionen und Position des Nutzers, so dass er sich in der simulierten Umgebung bewegen kann.

Etwas näher an der echten Welt ist Assisted Reality. Prominentes Beispiel sind die Google Glasses. Hier kann man Inhalte wie bei einem Headup-Display sehen. Die Brille funktioniert letztlich wie ein Tablet, bei dem der Nutzer Informationen aktiv abrufen muss.

AR, Augmented Reality, kann man sich als Weiterentwicklung der Assisted Reality vorstellen. Das Prinzip lässt sich mit der Smartphone-App Pokémon GO, einer vergleichsweise simplen AR-Anwendung, erklären: Über die Positionsdaten des Geräts und dem Bild der eingebauten Kamera erzeugt die App auf dem Display ein Abbild der Umgebung, in das die Spielfiguren eingeblendet werden. Die reale Welt wird hierfür von der Technik eigenständig erfasst und deren Abbild um virtuelle Anteile vermehrt. Dieses Verfahren nutzt Weidmüller für seine Zwecke. Am Stammsitz in Detmold ist das Team „Global Factory Digitalization & Intelligence“ für die Integration digitaler und intelligenter Systeme in die Produktion zuständig. In diesem Think Tank entstand die Idee, Servicetechniker für Kunststoffspritzgussmaschinen mit Hololens-Datenbrillen von Microsoft auszurüsten.

Datenbrille für die Spritzgussmaschine

Reihenklemmen gehören bei Weidmüller zu den meist verkauften Produkten. Die Klemmträger entstehen in großer Anzahl in Kunststoffspritzgussmaschinen. Hierbei ist unumgänglich, dass jederzeit eine hohe Anlagenverfügbarkeit gegeben ist. Geplante Stillstände für Umrüst- und Wartungsarbeiten, vor allem aber ungeplante Unterbrechungen sind kostspielig. Kann man die Prozesse durch intelligente Systeme erleichtern, spart dies bares Geld und verbessert zugleich die Arbeits­bedingungen.

Die Datenbrille soll dabei weit mehr sein als ein eingescanntes Handbuch. Zukünftig soll der Servicetechniker bei der Einrichtung alle Informationen zur Maschine angezeigt bekommen, gleichzeitig den Auftrag, der darauf laufen soll. Nähert er sich der Spritzgussmaschine, legt sich ein 3D-Modell in leuchtenden Umrissen über die reale Anlage. Die Ansicht folgt seinen Bewegungen, selbst wenn er sich über eine Komponente beugt und Details betrachtet.

Der Clou ist jedoch, dass er wie mit einer Röntgenbrille in die Maschine blicken kann. Was genau er zu sehen bekommt, kann der Techniker seiner jeweiligen Aufgabe anpassen. Überflüssiges bleibt somit verborgen, Relevantes wird hervorgehoben. Auf diese Weise kann er die Schläuche für das Kühlsystem nacheinander farbig aufblinken lassen, genauso die zugehörigen Anschlüsse. Damit ist klar, was an welcher Stelle und in welcher Reihenfolge zu montieren ist. Idealerweise wird die Datenbrille auch die Werkzeuge neben der Maschine erkennen und durch Blinken das passende hervorheben.

Infos für alle: AR-Daten im Firmennetz

Die nötigen Daten erhält die Brille per WLAN. Alle digitalen Informationen und Modelle sind auf den Firmen-Rechnern hinterlegt. Die Datenbrille lässt sich so problemlos in die Weidmüller Netzwerk-Infrastruktur einbinden wie ein Windows-Rechner. Das bringt erhebliche Vorteile mit sich. Denn dadurch lassen sich die Informationen leicht aktualisieren und sind an jedem angeschlossenen Ausgabegerät abrufbar. Damit bietet diese Technik einen Lösungsansatz für eine Herausforderung, der sich viele Unternehmen stellen müssen: Das Firmen-Know-how zu bündeln, zu pflegen und an jedem Standort verfügbar zu machen.

Ein Beispiel ist die richtige Einstellung der Fertigungs­parameter. Generationen von Werkern haben das nötige Know-how zusammengetragen: Die Temperatur oder Restfeuchtigkeit im Granulat, all das kann den Spritzgießprozess beeinflussen. Bei richtiger Einrichtung spart man viel Zeit und Material. Früher genügte es, diese Kompetenz am Stammsitz zu halten. Inzwischen fertigt Weidmüller aber an Standorten in aller Welt. Um die Mitarbeiter dort zu Spezialisten auszubilden, müssen erfahrene Kollegen mehrtägige Dienstreisen auf sich nehmen. In Zukunft könnten diese zumindest zum Teil durch ein gemeinsames Datenbrillen-Training ersetzt werden. Mit der Brille, die der Kollege an den weltweiten Standorten trägt, kann der deutsche Experte unterstützen, denn er sieht – im Wortsinn – das Geschehen durch die Brille des Kollegen. Er kann gezielt Hinweise geben, Objekte markieren und Informationen einblenden. So kann er Probleme viel schneller lösen. Der Prozess kann sogar aufgezeichnet werden. So lässt er sich zur Verbesserung auswerten oder für die nächste Reparatur dokumentieren. Dieser Remote-Support internationaler Standorte per Datenbrille ist das aktuelle Projekt des Teams „Global Factory Digitalization & Intelligence“.

Ein weiterer Schritt könnte eine interaktive Datensammlung sein, in die Mitarbeiter ihre Erfahrungen und Hinweise einspeisen. Jemand, der mehrfach auf den gleichen Fehler an einer bestimmten Maschine trifft, hinterlegt am 3D-Modell die Informationen, wie er den Fehler gelöst hat. Das hilft dann auch allen anderen, die ihn vertreten. Mitarbeiter könnten Reparaturen filmen und das Video für die Kollegen in aller Welt hinterlegen, die zum ersten Mal vor demselben Problem stehen. Denkbar wären auch Video-Tutorials. Maschinenneulinge können sie sich über die Brille irgendwo im Raum einblenden, während sie den Videoanleitungen mit beiden Händen folgen. Die Konzepte hierfür sind jedoch noch in den Kinderschuhen. Aktuell kann man die Darstellung von Informationen programmieren, die an bestimmten Punkten im 3D-Modell der Maschine hinterlegt werden und dann als Video, Text, Skizze oder in anderen Formaten abrufbar sein werden. Im nächsten Schritt bekommen die Maschinen QR-Codes, über die die Brille das zugehörige 3D-Modell aufrufen kann. Anschließend misst sie den Abstand zum Objekt und kann mit dieser Information das 3D-Modell in der richtigen Dimension und mit allen Rüstinformationen über die Maschine legen.

Derzeit baut Weidmüller die Datenbanken auf, aus denen sich derartige Systeme speisen lassen. Lohn der Mühe wird eine optimale Auswertung der Datenfülle sein, mit der sich die Qualität der Fertigungsprozesse noch weiter steigern lässt. Gleichzeitig profitieren die Mitarbeiter, die sich die nötigen Informationen für ihre Arbeit nicht mehr mühsam aus Druckwerken oder riesigen PDF-Sammlungen zusammen­suchen müssen. Sie haben mit den Datenbrillen immer genau die Informationen aus der firmeneigenen Datenbank vor Augen, die sie gerade benötigen.

Bildergalerie

  • Nähert sich Dr. Patrick-Benjamin Bök der Spritzgussmaschine, legt sich ein 3D-Modell in leuchtenden Umrissen über die reale Anlage.

    Nähert sich Dr. Patrick-Benjamin Bök der Spritzgussmaschine, legt sich ein 3D-Modell in leuchtenden Umrissen über die reale Anlage.

    Bild: Picture Alliance

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