Predictive Maintenance verfolgt als eine der Kernkompetenzen von Industrie 4.0 einen vorausschauenden Ansatz und wartet Maschinen und Anlagen proaktiv, um Ausfallzeiten niedrig zu halten. Doch trotz der Möglichkeiten diskutieren zwar 80 Prozent über das Thema Predictive Maintenance, aber nur wenige setzen es um. Nur sechs Prozent sehen aktuell einen Mehrwert in der vorausschauenden Instandhaltung auf der Grundlage von Prozess- und Maschinendaten. Zu diesem Ergebnis kommt der bereits zum vierten Mal erhobene Deutsche Industrie-4.0-Index, veröffentlicht Anfang 2018.
Predictive Maintenance sagen, Predictive Maintenance meinen
„Wir haben ein Definitionsproblem“, räumt Dr. Jesko Merkel, Data Scientist & Partner bei Point 8, ein. Oft werde Predictive Maintenance gesagt, aber Predictive Analytics im Allgemeinen, sprich Predictive Meintenance sowie Predictive Quality, gemeint. Die vorausschauende Wartung baut auf Condition Monitoring auf. Letzteres setzen viele Unternehmen seit Jahren erfolgreich um und würden deshalb nicht zwingend die Notwendigkeit für vorausschauende Instandhaltung sehen, mutmaßt Dr. Merkel.
„Für den Anlagenbetreiber ist Assetmanagement der erste Schritt", wirft Jan Vestbjerg Koch, Global Head Industry Sales bei Lenze, ein. „Aber für den Maschinenbauer ist es Remote Service. Er muss in der Lage sein, seine Maschinen remote zu servicieren, um seine Gewährleistungskosten so gering wie möglich zu halten. Über sichere Verbindungen und Managed Networks sammelt er wesentliche Daten - das ist dann Basis für seine eigene IoT-Strategie."
Viele Anlagenbetreiber investieren in die Technologie für Condition-based Maintenance, führen diesen Schritt allerdings nicht zu Ende. „Die Betreiber messen nicht, was sie erreicht haben“, weiß Michael Herbort, Leiter Service & Endkunden Vertrieb Deutschland bei ABB. So gibt die OEE-, die Overall-Equipment-Effectiveness-Kennzahl Auskunft über die Gesamtanlageneffektivität - wenn diese aber nicht bestimmt wird, können auch nicht die richtigen Rückschlüsse gezogen werden. „Und dann wird irgendwann jemand nach dem Nutzen fragen“, so Herbort.
Danilo Hollosi, Head of Acoustic Monitoring beim Fraunhofer IDMT in Oldenburg, kann dem nur zustimmen: „Anlagenbetreiber benötigen Unterstützung bei der Systematisierung in der Datenerhebung und deren Auswertung und der Identifikation von Optimierungspotenzialen. Im Bereich der intelligenten akustischen Sensorik sehen wir uns genau in einer solchen Rolle.“
Solange der Maschinenbauer seinen IoT-Remote-Zugang als Option anbietet, werden sich noch viele Endkunden dagegen entscheiden. Um die Maschinen und in Folge den Remote-Service dennoch erfolgreich anbieten zu können, empfiehlt Jan Vestbjerg-Koch, das „Tesla-Modell“ anzuwenden: Die Maschinen standardmäßig mit der IoT-Lösung auszustatten und auch den Remote-Cloud-Zugang kostenlos anzubieten. „So können sie die Hürde überwinden", ist sich Koch sicher.
Überhaupt würde sich Predictive Maintenance in zwei Geschwindigkeiten vollziehen, meint der Global Head Industry Sales bei Lenze: Bei den großen Anlagenbetreibern, die viel in neue Maschinen investieren, ist der Trend zu Asset Management schon jetzt zu beobachten. In den nächsten Jahren wird dies noch weiter zunehmen. In Werken, in denen Maschinen, Aktoren und Sensoren ein hohes Durchschnittsalter haben, wird der Wandel dagegen langsamer vorangehen. Erst wenn die Maschinen mehrheitlich mit Schnittstellen versehen sind, die digitale Kommunikation ermöglichen, wird Asset Management flächendeckend Fuß fassen. „Dieser technologische Generationswechsel steht uns noch bevor", meint Koch.
Sensoren al Alternative zum Nachrüsten
Allerdings stehen auch diese Unternehmen unter Druck, räumt Michael Herbort ein. Betreiber einer 30 Jahre alten Anlage haben nicht immer das erfahrene Instandhaltungspersonal zur Verfügung. Nicht jede Anlage könne mit integrierter Condition-Monitoring-Technik nachgerüstet werden. Die Alternative für diese Anlagenbetreiber: Sensoren, die an die Komponenten installiert werden.
Danilo Hollosi kann dem nur zustimmen, das Fraunhofer IDMT setze genau aus diesem Grund auf nachrüstbare Sensorlösungen. Das Wichtigste dabei: Die Sensorkonzepte müssen austauschbar, idealerweise drahtlos anbindbar, multifunktionell und zu einem erschwinglichen Preis erhältlich sein. Somit können einerseits erfolgreich Spezialanwendungen adressiert, andererseits auch eine Skalierung in Ecosystemen erreicht werden.
Neben der teilweise fehlenden Technik sind es aber auch Verwirrungen bei Begriffsdefinitionen, die den Endnutzer im produzierenden Gewerbe vor dem Schritt zu Predictive Maintenance abhalten. „Hier besteht konkreter Bedarf an ganzheitlichen Beratungsdienstleistungen", sagt Danilo Hollosi. Einzelne Bundesländer haben Beratungsstellen gegründet und Mittel zur Verfügung gestellt, um die Unternehmen auf ihrem Weg in die Digitalisierung umfassend zu informieren. Auch Fraunhofer hat in diesem Zusammenhang einen informellen Auftrag und fungiert als Ansprechpartner.
Auch um die Zukunft des Wartungspersonals herrscht Sorge. Die Experten des Roundtable sind sich aber einig: Predictive Maintenance wird den Beruf des Instandhalters nicht ersetzen. „Für mich ist dies ein Werkzeug für den Instandhalter, kein Ersatz“, betont Michael Herbort. Letztlich ist es das Wartungspersonal, das nach der Erstanalyse eine Inspektion vornehmen muss. Ohne Auswerte-Algorithmen geht es bei Predictive Maintenance nicht: Große Datensätze gezielt nach Anomalien scannen - das ist für das Instandhaltungspersonal nicht handelbar. Die Ängste des Wartungspersonal können die Experten aber trotzdem nachvollziehen. „Man wird mehr für das, was man schnell und reaktiv macht, weniger für etwas, das vorbeugend geschieht, belohnt“, weiß Michael Herbort und ergänzt: „Die Belohnungsmentalität ist manchmal die falsche.“
Bedenken ausräumen: Daten gehören dem Kunden
Eine weitere Angst betrifft den Datenschutz. Was passiert mit den Daten? Diese Frage ist für Unternehmen sehr wichtig, weiß Dr. Jesko Merkel. Datenanalysisten gegenüber gebe es das Vorurteil, dass sie das Wissen, das sie anhand der Daten über einen bestimmten Geschäftsbereich haben, an die Konkurrenz verkaufen. Oft sei dies auch ein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit. Die Gespräche um das Thema Datenschutz würden aber weniger werden, beobachtet Michael Herbort. Grundsätzlich gilt: Die Daten gehören dem Kunden, betont der ABBler.
Abhängig von der Zielgruppe herrschen beim Datenschutz unterschiedliche Auffassungen, erklärt Jan Vestbjerg Koch: Der Maschinenbauer wird die Daten lieber in seiner eigenen Cloud ablegen, denn dadurch spart er Geld und er kann seine Services entwickeln und anbieten. Für die Anlagenbetreiber sieht dies schon anders aus: Für sie besitzen gerade die OEE-Daten „eine gewisse Brisanz“. Sie reagieren häufig noch mit Ablehnung.
Wichtig sei auch, dass die Daten dem europäischen Recht unterliegen. Im Klartext: keine amerikanischen Cloud-Provider. In zehn Jahren, so prophezeit Michael Herbort, habe jede mittlere bis große Stadt, jedes mittelgroße Industriegebiet ein eigenes Rechenzentrum, in dem die Daten lokal liegen. Zurzeit würden Google & Co. viel Geld in die Errichtung von Datencentern, die nah beim Kunden sind, investieren.
Doch letztlich, da sind sich die Experten einig, wird nicht alles über die Cloud laufen: Auch in Zukunft werden Branchen mit kritischen Infrastrukturen, beispielsweise große Wasserwerke und Food-&-Beverage-Firmen, ihre Daten nicht online ablegen. „ABB bietet cloud- und webbasierte Lösungen“, so Herbort. Ob Cloud oder Edge - „da wird es keine Gewinner geben, sondern eine Koexistenz“, ist sich auch Danilo Hollosi vom Fraunhofer IDMT sicher.
Überhaupt ist auf dem Weg zu Predictive Maintenance eine Zusammenarbeit unter Unternehmen wichtig. „Daten sammeln ist kein Problem - das kann auf vielfältige Art und Weise geschehen“, erklärt Hollosi, „aber für die frühzeitige, domänenspezifische Datenbewertung braucht es das Expertenwissen und die Zusammenarbeit.“ Es geht nicht ohne das Fachwissen des Kunden, betont auch Dr. Jesko Merkel. Und auch Koch von Lenze setzt auf das „Partnering“ mit vielen Firmen.
Deshalb, so die Experten, gebe es auch keine Konkurrenz zwischen Komponentenhersteller und Datenanalyse-Anbietern. „Je komplexer die Systeme werden, desto nützlicher ist das Herstellerwissen“, fasst Michael Herbort zusammen. Ein Externer könne beispielsweise nicht sagen, wie der Halbleiter innerhalb des Strom- oder Frequenzumrichters altert.
Alles eine Frage der Wahrscheinlichkeit
Doch wann erhalten die Unternehmen eine aussagekräftige Vorhersage? Mit dem Smart Sensor oder Condition Monitor eine Aussage beispielsweise über die Alterung eines Umrichters zu treffen, ist heute schon Praxis. Die Frage ist aber auch, so Dr. Jesko Merkel, ob wirklich alle Anlagen angeschlossen sein müssen und man alles wissen muss, oder ob die Daten aus einer Sekundärquelle auch reichen würden, um die richtigen Rückschlüsse zu ziehen. Es sei auch fraglich, ob die Datengrundlage schon ausreichend groß sei, um alle Bereiche in der Produktion abzudecken. „Und natürlich hängt es auch davon ab, welche Sensorik verbaut ist“, betont Dr. Merkel.
Zukünftig wird es kontinuierlich selbstlernende Systeme auch auf Sensorebene geben. „Auf der Forschungsseite arbeiten wir an maschinellen Lernverfahren, die mit wenig Datenmaterial auskommen und multimodale Zusatzinformationen nutzen“, so Danilo Hollosi. Gleichzeitig entwickelt das Fraunhofer IDMT Methoden, die es erlauben, dass Experten-, Fachwissen und Erfahrungen beim Mitarbeiter in die Bewertung und Interpretation von Messdaten einfließen. „Je besser dies gelingt, umso aussagekräftiger wird die Vorhersage.“
Letztlich, so sind sich die Experten einig, ist alles eine Frage der Wahrscheinlichkeit. „Man wird nie eine 100-Prozent-Sicherheit haben“, betont Danilo Hollosi. „Es ist und bleibt eine Vorhersage.“ Es ist schon möglich, Schäden und Verluste gegeneinander abzuwägen, so Michael Herbort. Heute sei dies aber oft keine Aufgabe. Zunächst gilt erst einmal, Predictive Maintenance technisch umzusetzen und in die Service- und Produktionsstrategien einfließen zu lassen.