Entwickeln Maschinenbauer neue Maschinen, müssen diese schnell fertiggestellt und auf den Markt gebracht werden. Lange und komplizierte Entwicklungsphasen und eine Vielzahl an Prototypen sind wirtschaftlich nicht mehr tragbar. Herkömmliche Methoden, um Maschinen zu entwickeln und in Betrieb zu nehmen, decken diese Anforderungen nicht mehr ab.
An dieser Stelle kommt der digitale Zwilling ins Spiel. Der digitale Zwilling begleitet Maschinen über den gesamten Lebenszyklus hinweg – von der Planung bis zum Servicefall. Er wird parallel zur realen Maschine entwickelt, variiert, verbessert und getestet. So kommen Fehlplanungen oder notwendige Änderungen zum Vorschein, bevor ein realer Prototyp der Maschine gebaut wird.
Produktionsvorgänge simulieren
Neben der Simulation von Maschinenhardware und -software ist es wichtig, dass der digitale Zwilling auch Produktionsvorgänge realistisch und in Echtzeit abbilden kann. Zum Beispiel lässt sich so der Materialfluss auf einem Förderband simulieren und mögliche Kollisionen von Produkten werden frühzeitig erkannt. „Ein Simulationswerkzeug soll schnelle Produktionsvorgänge in Verbindung mit der realen Steuerung darstellen. Deshalb muss es zum einen hoch performant sein und zum anderen Vorgänge in Echtzeit abbilden können“, sagt Kurt Zehetleitner, Entwicklungsleiter für Simulation und Digital Twin bei B&R.
Diese Anforderungen deckt die Simulationssoftware IndustrialPhysics optimal ab. Mit einer integrierten und echtzeitfähigen Physik-Engine simuliert die Software das dynamische Verhalten einer Maschine in 3D. Sämtliche dynamische Faktoren, die auf den Materialfluss einwirken, können so mit dem digitalen Zwilling getestet werden. Der Maschinenentwickler sieht sofort, wie sich der Materialfluss verhält, wenn er Komponenten der Maschine austauscht. Auch Stillstandzeiten der Maschine lassen sich sofort erkennen und eliminieren.
CAD-Daten importieren
IndustrialPhysics nutzt für die Erstellung des digitalen Zwillings CAD-Daten. Diese importiert der Maschinenentwickler im STEP-Format und gelangt so schnell und einfach zum digitalen Zwilling. Welchen Einfluss unterschiedliche Kinematiken und Komponenten sowie Code-Änderungen auf der Steuerung auf die Maschinen haben, lässt sich direkt am digitalen Zwilling beobachten und analysieren. B&R hat IndustrialPhysics in das B&R-Engineering-Tool Automation Studio integriert.
„Durch die direkte Anbindung des Simulationswerkzeuges an Automation Studio kann der Entwickler das virtuelle Modell der Maschine sofort am PC mit einer Hardware- oder Software-in-the-Loop-Konfiguration starten und sich mit der Steuerung verbinden“, so Zehetleitner.
Virtuelle Realität
Damit sich der Entwickler ohne Ablenkung durch die Umgebung explizit mit dem simulierten Maschinenmodell befassen kann, muss ihm das Modell mehrdimensional zur Verfügung stehen. IndustrialPhysics bietet dafür die Möglichkeit, den digitalen Zwilling mit VR- und AR-Brillen zu betrachten. Der Entwickler erlebt so die geplante Maschine in der natürlichen dritten oder durch die Simulation von Bewegungen sogar in der vierten Dimension. „Mit der VR-Brille kann der Entwickler zum Beispiel Abläufe untersuchen, während die Simulation läuft. Zudem sind die Anbindung an reale Steuerungen sowie Handhabungsuntersuchungen möglich“, sagt Zehetleitner.
Im Gegensatz zur VR-Brille wird mit der AR-Brille der digitale Zwilling der Maschine in seine reale Umgebung eingeblendet. So sind zusätzlich sogenannte Was-wäre-wenn-Untersuchungen für die Planung und Entwicklung mit bewegten Objekten und Maschinen möglich. Informationen aus der Steuerung können in Echtzeit übertragen und eingeblendet werden. Sowohl das VR- als auch das AR-System lässt sich unkompliziert und innerhalb weniger Minuten in die Software integrieren. Die mit IndustrialPhysics simulierten Modelle werden dann statt auf dem PC-Bildschirm direkt in der VR- oder AR-Brille angezeigt.
Virtuelle Inbetriebnahme
Sind die Entwicklung der Hard- und Software einer Maschine und der Test der Produktionsabläufe abgeschlossen, folgt die virtuelle Inbetriebnahme. Auch diese kann mit dem digitalen Zwilling vorgenommen und so oft wiederholt werden, bis alles optimal funktioniert. Erst wenn die virtuelle Inbetriebnahme reibungslos verlaufen ist, wird ein realer Prototyp gebaut.
„Die Kosten für eine virtuelle Inbetriebnahme sind im Vergleich zur realen Inbetriebnahme sehr gering. Es gilt, möglichst viele Fehler zu eliminieren und Prototypenanpassungen am digitalen Zwilling vorzunehmen, bevor die reale Maschine gebaut und in Betrieb genommen wird“, so Zehetleitner. Dies wirkt sich positiv auf den Return-on-Investment aus.
Virtuelles Pendant im Schaltschrank
Auch nach der Inbetriebnahme der Maschine kann der digitale Zwilling weiterverwendet werden. In einer vernetzten Fabrik im Sinne des Industrial IoT werden sehr viele Maschinendaten aus dem laufenden Betrieb gesammelt und ausgewertet. Diese Daten können für den digitalen Zwilling verwendet werden.
„Basierend auf den Echtzeitdaten der Maschine läuft der digitale Zwilling als virtuelles Pendant im Schaltschrank mit“, erklärt Zehetleitner. Verändert sich das Verhalten der realen Maschine im Vergleich zum digitalen Zwilling, weil zum Beispiel ein Lager bereits sehr abgenutzt ist, fällt dies unmittelbar auf. So können die gesammelten Daten unter anderem für vorausschauende Wartung, Fehlerdokumentationen oder Fernwartungssysteme herangezogen werden. Zudem unterstützt der digitale Zwilling die Erweiterung der Maschine.
Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem laufenden Betrieb fließen in die Weiterentwicklung mit ein. Das Simulationsmodell steht dabei dem Maschinenbauer zur Verfügung, um alle geplanten Erweiterungen vorab sicher durchzuspielen. So werden Stillstandzeiten bei Aufrüstung auf ein Minimum reduziert.