Kommentar von Rudolf Aunkofer „Distribution gefragter denn je“

Rudolf Aunkofer ist Global Director Business Development Technology bei der GfK und darüber hinaus Professor für Information & Supply Chain Management an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning.

Bild: GfK
01.03.2018

Lange hat sich die Distribution an der Produktion orientiert. Doch Verkäufer- haben sich zu Käufermärkten gewandelt. Wie sieht die Zukunft der Distribution aus? Das Gebot der Stunde sind kundenfokussierte Front-end-Supply-Chain-Netzwerke und dezentrale Logistikkonzepte, meint Dr. Rudolf Aunkofer, Global Director Business Development Technology bei der GfK und Professor für Information & Supply Chain Management an der Hochschule für angewandtes Management.

Die Nutzung digitaler und vernetzter Technologien in Industrie und im Supply Chain Management wird eines der zentralen Themen des Jahres 2018 wie auch der Folgejahre sein. Schlagworte wie IIoT, Smart Factories oder auch Supply Chain Management 4.0 verdeutlichen dies. Parallel hierzu findet der identische Prozess bei privaten wie gewerblichen Kunden statt. Beide Trends führen zu einer Digitalisierung der gesamten Gesellschaft. Vor allem Logistik und Supply Chain Management sind davon betroffen. Das zeigen auch die aktuellen Diskussionen um „last-mile-delivery“ oder die Verfügbarkeit digitaler Infrastruktur.

Digitale Innovationen verstärken sich auf Grund eines exponentiellen Anstiegs von Rechenleistung (Moore’s Law) gegenseitig. Das hat auch Konsequenzen für das Supply Chain Management (SCM). Durch einen Fokus auf Produktion bedingt, ist das SCM des 20. Jahrhunderts back-end, also in Richtung Produktion orientiert gewesen. Das sollte eine bestmögliche Auslastung der eigenen Produktionskapazitäten sicherstellen und im weiteren Verlauf die gesamte Zulieferkette optimieren. In den Verkäufermärkten des letzten Jahrhunderts, die durch einen Nachfrageüberhang gekennzeichnet waren, war das eine konsequente und zielführende Strategie.

Mehr als eine Schnittstelle

Mit dem Wandel von Verkäufer- zu Käufermärkten, das heißt der Machtverschiebung hin zum Kunden, sowie dem Outsourcing von Produktion an eine hochspezialisierte Zulieferindustrie, wandelte sich die grundlegende Ausrichtung von SCM-Konzepten hin zum gewerblichen wie privaten Kunden. „Front-end“ Supply Chain Management ist das Gebot des 21. Jahrhunderts. Eine flexible, an den tatsächlichen Bedarf angepasste und zudem mehr individualisierte Produktion wie auch eine zeitnahe Lieferung von Produkten führt zu einer neuen Dimension an Kundenorientierung bei gleichzeitiger Optimierung der Lagerbestände. Distribution agiert nicht mehr nur „lediglich“ als Schnittstelle zum Kunden, sondern nimmt auch die Rolle eines Frühindikators für Kundenpräferenzen und -nachfrage für den Hersteller ein.

Mit der Transformation in eine vernetzte, digitale Gesellschaft verliert der USP einer industriell geprägten Gesellschaft, das klassische Fertigungs-Know-how und das Managen von Produktionsprozessen, Schritt für Schritt an Bedeutung. Dagegen werden in einer mehr dezentralen und hochautomatisierten Wirtschaft folgende Fähigkeiten zum elementaren Wettbewerbsvorteil: das abgestimmte Management von digitaler wie physikalischer Infrastruktur, vernetzte (Produktions- und Logistik-) Prozesse, Marketing sowie IT- und Organisations-Know-how entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Chance der Distribution

Der Wettbewerb der Zukunft findet nicht mehr zwischen Unternehmen, sondern zwischen agilen, sich je nach Bedarf neu findenden, sich teilweise überschneidenden Supply-Chain-Netzwerken statt. Bislang linear ablaufende Prozesse werden auf Basis digitaler Daten entlang der gesamten Wertschöpfungskette individuell steuerbar und lassen sich zeitlich optimal strukturieren. Das führt zeitgleich zu Kostenvorteilen und verbessert die Kundenorientierung. Die Chance von Distribution liegt darin, Funktionen sowohl des Herstellers als auch des Handels zu übernehmen. Eine effizientere Nutzung bereits vorhandener Infrastruktur mit Konzepten wie zum Beispiel Shared Logistics & Warehousing werden Realität.

In diesem Kontext wird oftmals das Bedrohungsszenario E-Tail diskutiert. E-Tailer sind und werden in bestimmten Segmenten eine alternative Bezugsquelle zur klassischen Distribution darstellen. E-Tail wird vor allem Marktsegmente erobern, in denen Distributoren nicht Willens oder nicht in der Lage sind, das magische Qualitätsdreieck von Logistik, Sortiment und Preis wettbewerbsfähig und kundenorientiert anzubieten. Dies wird vor allem in Märkten mit hoher Preis- beziehungsweise Kostensensitivität, geringen Bestellvolumina, moderater Bestellfrequenz, atomistischer Kundenstruktur und hoher Retourenquote der Fall sein. Charakteristika also, die eher auf ein konsumtives als auf ein gewerbliches Umfeld zutreffen.

Eine Koexistenz beider Beschaffungsquellen ist daher ein realistisches Szenario für die kommenden fünf Jahre, bis es der Distribution (oder den E-Tailern) gelingt, digitale und global agierende Marktplätze zu schaffen, die aufgrund ihrer hohen Transparenz zu einer Wettbewerbsintensivierung wie Marktbereinigung führen werden. Erste Tendenzen hierzu sind vor allem im asiatischen Raum zu beobachten.

Abschließend stellt sich die Frage, welche Relevanz neue Technologien im Kontext von agilen Supply-Chain-Netzwerken besitzen. Hier ist die Expertenmeinung eindeutig: Im Kontext der digitalen Transformation existieren keine Technologien, die lediglich „geringe Auswirkungen“ besitzen. Disruptive Innovationen haben mindestens starke, in den meisten Fällen sogar sehr starke Effekte auf Industrie und Handel.

Die Realisierung von Top-Themen wie Robotik, neuen additiven Fertigungsverfahren oder Speed Factory werden zu einer nachhaltigen Zentralisierung des Supply Chain Management sowie zeitgleich zu einer Dezentralisierung und Individualisierung klassischer Logistikprozesse führen. Produktion wird in Zukunft mehr individualisiert, lokal und direkt in den Absatzmärkten stattfinden, die über die entsprechend hohe Nachfrage verfügen. Industrie 4.0 führt also in Konsequenz zu einem Supply Chain Management 4.0, das heißt zu Supply-Chain-Netzwerken.

Abkehr von alten Denkmustern

Die Digitalisierung befreit die Geschäftswelt von einer Vielzahl von Restriktionen und Prozessen, die einem industriell geprägten Denkmuster folgen. Handel, Distributoren, Hersteller und die Zulieferindustrie erhalten die Option, Geschäftsprozesse wie komplette -modelle mit vertretbarem Aufwand zeitnah zu modifizieren und im Sinne einer neuen Kundenorientierung nahezu beliebig neu zu definieren. Die Dimensionen Zeit und Flexibilität erlangen im Kontext der digitalen Transformation eine elementare Bedeutung für den unternehmerischen Erfolg.

Auch die Unternehmensstrukturen werden sich nachhaltig verändern. Etablieren wird sich ein global, wie zentral ausgerichtetes Unternehmensmanagement – in Kombination mit einem definierten Empowerment der lokalen wie regionalen Tochtergesellschaften, die im Rahmen globaler Standards flexibel agieren. Diese dynamische Organisationsstruktur ermöglicht es Mitarbeitern, flexibel, kundenorientiert und zeitnah zu handeln. Ein ganzheitlich vernetztes Denken über die gesamte Supply Chain hinweg wird partnerschaftlich agierende Öko-Systeme entlang der gesamten Wertschöpfungskette entstehen lassen. Die digitale Transformation eröffnet Supply-Chain-Netzwerken damit eine neue Dimension an interaktiver Customer Centricity. Diese ist eine Chance für alle Akteure – speziell aber für Distribution und Logistik. Distribution wird somit im kommenden Jahr mehr gefragt sein denn je.

Dieser Artikel ist Teil des Fokusthemas „Distribution" aus der A&D-Ausgabe 3-2018.

Bildergalerie

  • Der Wettbewerb findet künftig zwischen agilen und sich teilweise überschneidenden Supply-Chain-Netzwerken statt.

    Der Wettbewerb findet künftig zwischen agilen und sich teilweise überschneidenden Supply-Chain-Netzwerken statt.

    Bild: GfK, iSCM

Firmen zu diesem Artikel
Verwandte Artikel