Am Anfang steht ein Stück Metall. Im Karosseriebau beginnt die Zuweisung zum Kundenauftrag mit dem Hinterwagen. Schritt für Schritt nimmt schließlich das Auto seine Form an.
Spätestens nach einem Aufenthalt in der Lackiererei ist auch für den Laien optisch eine individuelle Note zu erkennen: feuerrot, tiefschwarz oder doch mitternachtsblau? Aber selbst ohne eine auffällige Lackierung lässt der neue Audi A8 mit zahlreichen individuell bestimmbaren Ausfertigungen kaum Kundenwünsche offen.
Zwischen Karosseriebau und der ersten Fahrt im neuen Auto liegt jedoch ein weiter Weg. An vielen Stationen muss sichergestellt werden, dass das Auto genauso produziert wird, wie es der Kunde bestellt hat. Audi löst diese Aufgabe in Neckarsulm mit einer gewerkeübergreifenden RFID-basierten Identifikationslösung. An der Produktionslinie des 2017 vorgestellten Nachfolgemodells des Audi A8 kommen UHF-RFID-Schreib-/Lesegeräte des Sensorherstellers Sick zum Einsatz, die passive RFID-Label an den Fahrzeugen bei jedem Produktionsschritt zuverlässig identifizieren. „Wenn wir eine neue Produktionslinie planen, berücksichtigen wir natürlich auch die Frage, wie an den einzelnen Stationen die Werkstücke identifiziert werden können“, sagt Jan-Erik Butt, Verantwortlicher für RFID bei Audi in Neckarsulm. „Erstrebenswert ist dabei unbedingt die gewerkeübergreifende Identifikation vom Karosseriebau über die Lackiererei bis zur Endmontage. RFID eignet sich hier besonders gut als widerstandsfähige Technologie mit flexiblen Anschluss- und Integrationsmöglichkeiten in das Produktionssystem.
Identifikation unter allen Bedingungen
Um die Leistung unterschiedlicher Anbieter zu vergleichen, testete Audi schließlich eine Woche lang in der Lackiererei, wo das RFID-Label am Fahrzeug höchsten Belastungen ausgesetzt ist. „Sick hat dabei über Zuverlässigkeit überzeugt. Unser Anspruch sind 100 Prozent Verfügbarkeit. Mit 90 Prozent geben wir uns in der Automobilindustrie nicht zufrieden,“ betont Thomas Vogel, Fachprojektleiter Digitale Fertigung der Baureihe A8.
Während des Produktionsprozesses sind die Fahrzeuge starken äußeren Einflüssen ausgesetzt, wie zum Beispiel großer Hitze und Chemikalien. Die Temperaturen in der Lackiererei erreichen bis zu 230 Grad Umluft und in der kathodischen Tauchlackierung fährt das Fahrzeug komplett in ein Becken mit Säure-Basen-Gemisch. Dort wird Spannung angelegt und das Metall mit Korrosionsschutz beschichtet.
Die gesuchte Lösung musste diesen harschen Einflüssen standhalten. Das Projektteam entschied sich deshalb für den Einsatz passiver RFID-Labels im Einmalgebrauch. Diese halten großen Belastungen stand, lassen sich einfach an der Karosserie befestigen und in der Endmontage wieder entfernen.
„Den Karosseriebaustart markiert der Zeitpunkt, an dem ein Längsträger beschriftet beziehungsweise individualisiert wird. Dort erhält er seine Auftragsnummer und dort bringen wir auch das RFID-Label an. Das ist der erste Zeitpunkt an dem es Varianz gibt, an dem wir identifizieren. Ab da haben wir RFID immer am Fahrzeug“, erläutert Jan-Erik Butt. Das RFID-Label ist ungefähr so groß wie eine Visitenkarte und besteht aus Nomexmaterial, das die darin eingeschlossene Antenne und den Chip vor Hitze und anderen Einflüssen schützt.
Koppelung an Bandstopp
Die meisten Individualisierungen zwischen den Fahrzeugen entstehen in der Montage, je nachdem, welche Ausführung der Kunde bestellt hat. Hier herrscht eine sehr hohe Varianz und es ist somit ausschlaggebend, die Fahrzeuge korrekt zu identifizieren. Schließlich muss jeder Mitarbeiter wissen, welches Fahrzeug er vor sich hat, um es entsprechend zu bearbeiten. Audi hat sich außerdem für ein besonderes Konzept entschieden, dass die Zuverlässigkeit der RFID-Lösung noch viel wichtiger macht: Die RFID-Lesung ist an einen Bandstopp gekoppelt. Sollte die RFID-Identifikation eines Fahrzeugs an einer Stelle fehlschlagen, steht die Produktionslinie still. So stellt Audi sicher, dass kein Fahrzeug ohne Identifikation eine Station verlässt. Entfernt wird das RFID-Label schließlich in der Endmontage, mitunter wegen der sensiblen Produktionsdaten.
Ein weiterer Grund, auf RFID zu setzen, ist für Jan-Erik Butt die stets gleichbleibende Datengüte, die an jeder Station aus der Lesung resultiert. „Wenn wir aus allen Bereichen die gleiche Art von Daten bekommen, können wir zum Beispiel aussagekräftige Trendanalysen generieren, da die Lesesituationen vergleichbar sind. So erhalten wir umfangreiche Informationen über den gesamten Produktionsprozess, an die wir mit gemischten Technologien gar nicht herankommen. Das gibt uns natürlich die Möglichkeit, auch präventiv ganz anders zu agieren, anstatt immer nur zu reagieren. Wir arbeiten an Methoden um etwa zu beobachten, wie Lesequalitäten sich schrittweise verschlechtern und eingreifen, bevor es zum Fehler kommt.“
Kommunikation direkt ins MES-System
Der Audi-Standort Neckarsulm setzt als RFID-Lösung das Eco-System Sick AppSpace ein, mit dem sich maßgeschneiderte Sensor-Apps leicht programmieren lassen. „Für die Weiterverarbeitung der Daten möchten wir neue Möglichkeiten schaffen, die genau unseren Anforderungen entsprechen“, führt Jan-Erik Butt aus. „Sick AppSpace setzen wir beispielsweise an einer Lesestelle ein, um von der Antenne empfängergerecht direkt ins MES-System zu kommunizieren, über das wir die Produktion steuern. Ohne zusätzliche Middleware können wir etwa ein plattform- und herstellerunabhängiges, serviceorientiertes Architekturframework wie OPC UA realisieren. Wir müssen also nicht bei jeder Umprogrammierung die kompletten Anlageneinstellungen verändern. Stattdessen können wir der Antenne über eine App dezentral beibringen, wie sie Daten verarbeiten und weiterleiten soll. Wir wollen verschiedenste Funktionen innerhalb eines Lesegeräts flexibel bedienen können, daher macht es Sinn, dass die Antenne selbst intelligenter wird.“
Das Resümee von Jan-Erik Butt fällt positiv aus: „Der Vorher-Nachher-Vergleich zeigt nach erfolgreicher Umstellungsphase eine höhere Verfügbarkeit und oft auch eine deutliche Zeitersparnis: Die Inbetriebnahme von RFID-Antennen ist im Gegensatz zu den ursprünglichen proprietären Systemen weniger zeitaufwendig.“ Was zunächst innerhalb eines Fahrzeugprojekts anfing und auf ein Derivat ausgerichtet war, ist längst übergreifend im Einsatz: „Die Ergebnisse der RFID-Identifikation haben uns überzeugt. Statt nur in einer Halle oder in einem Fahrzeugprojekt mit RFID zu identifizieren, wird RFID in der gesamten Produktion am Standort Neckarsulm zur Identifikation eingesetzt.“