Gemeinsam repräsentieren Sie 5.000 deutsche Unternehmen, darunter viele Weltmarktführer. Was bleibt von „Made in Germany“ im Zeitalter der Digitalisierung?
Festge:
Aus Sicht des Maschinenbaus bedeutet „Made in Germany“ schon heute nicht zwingend, dass ausschließlich in Deutschland produziert wird. Unsere internationalen Kunden verstehen das Siegel eher als Markenbegriff für besonders hohe
Qualität und deutsches Know-how.
Ziesemer:
So sehe ich das auch: „Made in Germany“ ist eine Marke, mit der überall auf der Welt Qualität und Funktionalität verbunden werden. Ich glaube, das wird auch in 20 Jahren so sein, auch wenn die Produkte ganz andere sein werden.
Bislang ist diese Qualitätswahrnehmung stark damit verbunden, besonders präzise zu fertigen.
Ziesemer:
Toleranzen im Mikrometerbereich interessieren unsere Kunden immer weniger. Das setzen die einfach voraus und sagen uns: Ich will eine betriebswirtschaftlich tragbare Lösung für meine Produktion. Technologien sind dabei Mittel zum Zweck und werden sich verändern: Der IT-Anteil steigt, die Integration ins Internet wird zum Standard.
Festge:
Das ist die Zukunft! Denn auf den Mikrometer genau fertigen,
das können chinesische Anbieter irgendwann auch. Es geht künftig darum, dass wir die Produktion unserer Kunden verstehen. Nicht mehr die Maschine, sondern der ganze Prozess ist „Made in Germany“. Ein Beispiel dafür aus meinem eigenen Unternehmen: Über Software und Datenverbindungen können wir Siebmaschinen, die wir an einen Minenbetreiber in Australien liefern, aus Deutschland heraus überwachen. Bei uns sitzen Menschen, die nicht nur die Kompetenz für die Maschine haben, sondern auch wissen, wie sich eine solche Maschine am anderen Ende der Welt verhalten muss.
Ziesemer:
Ich sehe das hundertprozentig genauso. Unsere Unternehmen kennen ihre Kunden. Wir liefern nicht nur den besten Antrieb oder die beste Steuerung, sondern wissen, wie wir diese Komponenten in die Prozesse beim Kunden einbinden können. Mit Industrie 4.0 entwickeln wir uns viel stärker in Richtung Dienstleistungsunternehmen. Diese Dienstleistungen werden sehr stark datengestützt sein.
Wie steht es denn um Industrie 4.0 in Deutschland?
Ziesemer:
Das Momentum ist sehr groß. Zum einen arbeitet die Plattform Industrie 4.0 an den Rahmenbedingungen, legislativ wie technisch. Zum anderen haben wir im letzten Herbst mit dem „Labs Network Industrie 4.0“ eine Voraussetzung dafür geschaffen, dass mittelständische Unternehmen Lösungen für die vernetzte Fabrik in der Praxis testen können. Aber machen wir uns nichts vor: Lösungen für Industrie 4.0 entwickeln weder die Politik noch VDMA oder ZVEI, sondern Unternehmen, die im Wettbewerb zueinander stehen
Festge:
Auch wenn ich mir manchmal noch mehr Umsetzungsgeschwindigkeit wünsche, ist es ein großer Erfolg, dass die Politik das Thema Industrie 4.0 als wesentlich erkannt hat. Nicht unwesentlich ist zudem, dass in der Plattform Industrie 4.0 nicht nur Unternehmen und Verbände am Tisch sitzen, sondern auch die Politik und Gewerkschaften. Das macht es manchmal kompliziert, weil die Akzeptanz freiheitlichen unternehmerischen Handelns nicht überall ausgeprägt ist. Aber es ist wichtig, dass wir nicht in eine Richtung laufen, wo die anderen Akteure nicht mehr mitkommen.
Ziesemer:
Und letztlich sind wir auf einen einheitlichen politischen Rahmen in Europa angewiesen. Ich sage nur: Datenschutzrichtlinien. Es kann ja nicht sein, dass wir in jedem Mitgliedsstaat unterschiedliche Regelungen haben.
Was kann die Politik darüber hinaus tun?
Festge:
Um es auf den Punkt zu bringen: Wir müssen mit jedem Kunden in Europa so zusammenarbeiten können, als wäre er im Nachbardorf beheimatet – auf einer technisch und gesetzlich abgesicherten Basis.
Ziesemer:
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass über Industrie 4.0 hinaus die Digitalisierung an Grenzen nicht Halt macht. Das gilt für intelligente Energienetze genauso wie für das Automobil. Auch hier müssen wir europaweit einheitliche Regeln hinbekommen.
Kann die Europäische Union als komplexes Gebilde denn überhaupt Schritt halten mit der Innovationsgeschwindigkeit
einer digitalisierten Wirtschaft?
Ziesemer:
Das muss sie! Die Politik hat erkannt, dass die Zukunft in Europa maßgeblich durch die Digitalisierung geprägt wird. Es handelt sich ja auch um einen Wettstreit der Wirtschaftsräume. Wenn wir Arbeitsplätze in Europa halten oder sogar ausbauen wollen, müssen wir mit dem Tempo mitgehen. Wir unterstützen deshalb EU-Kommissar Oettinger und seine Digitalisierungsstrategie für Europa.
In Europa wird ein hoher Teil der Wirtschaftsleistung durch mittelständische Unternehmen erbracht, die zum Teil im Wettbewerb mit internationalen Großkonzernen stehen. Kann das im Zeitalter der Digitalisierung gutgehen?
Festge:
Warum sollte das nicht gutgehen? Der Mittelstand hat Vor- und Nachteile, wenn es um Industrie 4.0 geht. Die Vorteile: Wir sind Technologietreiber und häufig schneller als Großkonzerne. Und wir sind als Mittelständler näher am Produkt. Wir wissen auch jenseits der Massenproduktion, wo sich Chancen auftun. Wo wir Schwierigkeiten haben, ist die Finanzierung großer Investitionen, hier haben große Unternehmen klare Vorteile.
Ziesemer:
Die Stärke der deutschen Volkswirtschaft ist doch die Mischung zwischen Großunternehmen und Mittelstand. Wollen wir doch mal sehen, wer die ersten Industrie-4.0-Lösungen im Markt hat. Keiner kauft „Industrie 4.0“. Gekauft werden betriebswirtschaftlich vernünftige Lösungen für das Unternehmen.
Festge:
... und um die zu realisieren, brauchen die Großen unsere Produkte.
Ziesemer:
Wir müssen allerdings die Lücken schließen, die wir haben, wenn es um datengetriebene Geschäftsmodelle geht. Aus Daten Geschäft zu generieren, das können Amazon, Google und Co natürlich. Wenn wir jetzt zupacken, nicht zu lange brauchen und ohne Berührungsängste auch mit Unternehmen in China und den USA zusammenarbeiten, dann muss uns nicht bange sein.
Wettbewerb wird ja auch über Normen entschieden. Kann Deutschland diesen Kampf gewinnen?
Ziesemer:
Normen sind wichtig. Mit unserem Referenzarchitekturmodell RAMI 4.0 und der Industrie-4.0-Komponente haben wir erneut unsere Kompetenz unter Beweis gestellt und stellen uns dem Wettbewerb. Bei der Kommunikation von Maschine zu Maschine wird es vielleicht die eine Sprache nicht geben, sondern zwei oder drei. Aktuell beschreiten wir mit einem „Open-Source-Projekt“ auch neue Wege in der Standardisierung. Am Ende ist wichtig, dass es technisch funktioniert und dem Kunden Nutzen stiftet, nicht zuletzt auch in Euro und Cent.
Festge:
Ob wir der Gewinner sind, entscheidet sich ja auch jeden Tag neu. Das Thema Digitalisierung ist so bunt und facettenreich, dass es vermessen wäre, überall die Nummer Eins sein zu wollen. Es ist doch fantastisch, dass wir in einer globalisierten Welt den Ton in Elektrotechnik und Maschinenbau angeben. Und da bauen wir – Ihre Mitglieder, Herr Ziesemer, und unsere – gerade große Chancen auf.
Ziesemer:
Grundsätzlich besteht natürlich schon die Gefahr, dass unsere Wertschöpfungsketten aufgebrochen werden.
Festge:
Aber da sehe ich auch die Chance für uns. Wenn wir nicht mit der Inbetriebnahme der Maschine beim Kunden aufhören, sondern ihm helfen, seine Produktion zu optimieren oder diese sogar zu betreiben – und das jeden Tag und unabhängig davon, wo auf der Welt die Maschinen im Einsatz sind. Das geht für einen Mittelständler aus meiner Heimatstadt Oelde erst durch die Digitalisierung. Da tun sich ganz neue Geschäftsfelder, gerade für kleinere Unternehmen auf. Das einzige Problem ist dabei, dass wir uns die Software-Truppen von Großunternehmen nicht leisten können. Die müssten wir uns mieten – da müsste das Angebot ausgebaut werden.
Das setzt aber voraus, dass es in Deutschland überhaupt ausreichend qualifizierte Fachkräfte gibt.
Ziesemer:
Der Fachkräftemangel ist die größte Herausforderung überhaupt. Im Moment geht das noch, aber ich sehe bei uns im Unternehmen, dass wir immer mehr Zeit benötigen, um entsprechende Positionen zu besetzen. Wir sind mitten im demographischen Wandel. Trotzdem gelingt es uns noch immer nicht, ausreichend Frauen für Ingenieurberufe zu begeistern. In der Elektrotechnik haben wir in Deutschland 11 Prozent weibliche Studienanfänger, in Frankreich sind es 27 Prozent – warum?
Festge:
Das kann ich Ihnen sagen: In Nordrhein- Westfalen kann man theoretisch die Abiturprüfung im Fach „Technik“ ablegen, sogar als Leistungskurs. Aber in einem Bundesland mit 18 Millionen Einwohnern haben wir nur 120 Lehrer, die dieses Fach unterrichten und Prüfungen abnehmen dürfen. Das ist eine politische Aufgabe: Schüler und Schülerinnen frühzeitig mit Technik in Kontakt zu bringen.
Ziesemer:
Ich gebe Ihnen recht. Zusätzlich werden wir aber auch Fachkräfte aus dem Ausland holen. Und wir müssen ältere Mitarbeiter länger beschäftigen dürfen und laufend weiterqualifizieren. Innovation ohne Fachleute, das geht nicht. Übrigens meine ich nicht nur Akademiker, sondern auch die Facharbeiter.
Wird die Digitalisierung denn insgesamt zu einem Jobabbau in der Industrie führen?
Ziesemer:
Das Ziel muss sein, dass nach der Digitalisierung mindestens so viele Industrie-Arbeitsplätze bestehen wie vor deren Beginn. Ohne Wenn und Aber. Die Chance ist größer als das Risiko.
Festge:
Natürlich wird es zu Umschichtungen kommen. Besonders monotone Arbeiten könnten durch intelligentere Maschinen eines Tages automatisiert werden. Wenn Sie sehen, unter welchen Bedingungen Menschen zum Beispiel in der Fleischzerlegung heutzutage arbeiten, ist dieser Verlust zu verschmerzen, zumal ja neue Jobs entstehen werden.
Ihre Verbände nehmen in der Vorbereitung von Industrie 4.0 eine sehr aktive Rolle ein, wo liegen die Motivationen dazu?
Festge:
Es war schon immer unsere Aufgabe, unsere Mitgliedsunternehmen auf neue Märkte vorzubereiten. Das war bei der Globalisierung als Mega-Thema so und nun bei Industrie 4.0. Denn Verbände haben die Aufgabe, Themen aufzubereiten, Informationen zu bieten und Umsetzungsunterstützung zu leisten.
Ziesemer:
Ich betrachte mich schon auch als Wanderprediger in Sachen Digitalisierung, nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch in der eigenen Mitgliedschaft. Wenn es gilt, eine Branche auf neue Aufgaben vorzubereiten, sind wir gefragt.
Wenn in einer digitalen Welt Maschine und Elektronik zusammenwachsen, wird es in 20 Jahren noch zwei Verbände geben?
Ziesemer:
Natürlich wächst vieles zusammen. Aber Größe ist nicht alles, man muss auch bewegungsfähig bleiben. Am Ende geht es nicht darum, ob es ein oder zwei Verbände gibt, sondern dass wir zusammenarbeiten und die Resultate stimmen.
Festge:
Jeder von uns beiden hat doch seine Stärken. Ein Verband hätte auch nur noch einen Präsidenten. Der hätte nur die Hälfte der Kontakte mit der Politik. Viel besser ist es, wenn wir uns die Bälle in den Lauf schießen.
Ziesemer:
Am Ende zählt es, dass wir gemeinsam mindestens ein Tor in Führung liegen, nicht wer das Tor geschossen hat.