In Abwasseranlagen wird mittlerweile großer Wert auf fortschrittliche Automatisierung gelegt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland: Etwa 80 Prozent beträgt der Exportanteil des Dresdeners Technologieunternehmens Biogest International. Das Leistungsspektrum reicht vom kompletten Engineering der Elektrotechnik bis zur Inbetriebnahme und dem Service. Das jüngste Projekt des Unternehmens: die komplette automatisierungs- und antriebstechnische Ausrüstung eines Klärwerks in Provadia. Bei dem Projekt für Bulgarien hat Biogest International zum ersten Mal nur eine einzige durchgängige Engineering-Plattform genutzt: von der Planung über Programmierung, Inbetriebsetzung bis zur Instandhaltung der gesamten Steuerungs- und Antriebstechnik. Das Technologieunternehmen setzt dabei auf Totally Integrated Automation (TIA), wie es Siemens als aufeinander abgestimmte Gesamtlösung anbietet.
Dr. Richard Gruhler, Leiter für Automatisierungstechnik bei Biogest International, betont: „Für uns ist es ein großer Vorteil, dass wir im Zuge von TIA neben der Automatisierungstechnik nun auch die gesamte Antriebstechnik unserer Anlagen gemäß des Ansatzes Integrated Drive Systems aus einem Guss realisieren können.“ Mit Integrated Drive Systems (IDS) fasst Siemens alle Komponenten des Antriebsstrangs zusammen, die gemeinsam eine effiziente und integrierte Lösung bilden: Umrichter, Motoren, Kupplung und Getriebe. So ist die gesamte Automatisierung perfekt aufeinander abgestimmt – vom integrierten Antriebsportfolio über die Integration in die Automatisierungsebene bis zur Integration in Lifecycle-IT und Service. Das trägt dazu bei, Produktivität, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit zu steigern und führt außerdem zu einer kürzeren Time-to-Market und einer kürzeren Time-to-Profit.
Dem IDS-Ansatz folgend hat Biogest vier Mischer in den Bioreaktoren mit Simogear-Getriebemotoren mit einer Leistung von jeweils 22 kW ausgerüstet. Diese Mischer sind für die homogene Luft-Sauerstoffverteilung zuständig. Der Luftstrom dafür wird von drei Gebläsen erzeugt, über Rohrleitungen in die Becken transportiert und über ein Begasungssystem am Beckenboden verteilt. Um die Teilevielfalt zu reduzieren, hat sich das Technologieunternehmen bei allen sieben Antrieben für die Frequenzumrichter Sinamics G120 von Siemens entschieden.
Individuelle Konfiguration möglich
Einen der wesentlichen Vorteile dieser Frequenzumrichter sieht der Automatisierungsexperte im modularen Aufbau. Denn Reglereinheiten und Power Module lassen sich individuell konfigurieren und somit präzise an den Bedarf anpassen. Bei einer Leistungsanpassung muss somit nur das Power Module neu installiert werden. Im bulgarischen Projekt gibt es sieben gleiche Reglereinheiten plus vier Power Modules mit 22 kW für die Mischer und drei mit 37,5 kW für die Gebläse. Dadurch ist die Ersatzteilbevorratung vor Ort entsprechend einfach.
Auch das Bedienpanel lässt sich individuell anpassen. Während dem Endkunden ein Basic Operator Panel (BOP) für die Bedienung genügt, nutzen die Inbetriebsetzer von Biogest International das Intelligent Operator Panel (IOP), das funktional mehr Möglichkeiten bereitstellt. Bis zu 16 Datensätze lassen sich beispielsweise darauf ablegen, was beim Klonen der Frequenzumrichterparameter für verschiedene Antriebe der Anlage viel Zeit spart.
Interessant ist auch das Thema Energieeinsparung. Die Simogear-Getriebemotoren wurden beispielsweise mit besonders energieeffizienten Drehstrom-Asynchronmotoren des Typs 1LE1 bestückt. Diese Motoren mit Kupfer-Druckgussläufern erreichen die Effizienzklasse IE3 und sparen bei einer Einschaltdauer von circa 85 Prozent während eines etwa 18 Stunden dauernden Klärzyklus 5 Prozent Energie. Darüber hinaus arbeiten die Kegelrad-Untersetzungsgetriebe zweistufig, was deren Wirkungsgrad weiter erhöht.
Frequenzumrichter Sinamics G120 tragen ebenfalls einen Teil zur Energieeinsparung bei. Mit ihnen lassen sich die biologischen Prozesse in den Becken sehr genau regeln. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass Mischerantriebe in der Denitrifikationsphase – also beim „Umrühren“, damit nichts sedimentiert – und während der Belüftungsphase nur zwischen 65 und 95 Prozent der Nenndrehzahl am Getriebemotor benötigen. Dabei werden die Drehzahlen der Mixer und Gebläse in Abhängigkeit des Sauerstoffgehalts im Reaktor geregelt.
Als weitere Energiesparmöglichkeit sind die Frequenzumrichter im Eco-Modus in der Lage, den magnetischen Fluss im Motor zu optimieren. Das bietet sich bei Bewegungen mit gleich bleibendem Moment an, wie es bei den Mischerantrieben innerhalb bestimmter Zeitfenster der Fall ist. Außerdem besitzen die Sinamics G120 einen sogenannten Sleep-Modus. Dadurch kann das Power Module während längerer Ruhephasen wie zum Beispiel beim Sedimentieren komplett abschalten und dadurch Energie sparen. Die Reglereinheit des Sinamics G120 arbeitet trotzdem weiter und bei Bedarf nimmt das Power Module seine Arbeit in kürzester Zeit wieder auf.
Deutliche Einsparungen im Engineering
Der entscheidende Vorteil dieser von TIA geprägten modernen Antriebstechnik ist allerdings das beschleunigte Engineering von der Planung bis zur Inbetriebnahme, das nun auch den gesamten Antriebsstrang erfasst. Gruhler erklärt den Unterschied zu früher: „Mit dem Engineering Framework TIA Portal von Siemens können wir dank des Integrated Drive Systems nun von der Steuerung bis zum Motor alles auf einer Plattform programmieren, parametrieren, visualisieren und diagnostizieren.“
TIA Portal ist die zentrale Software, die bekannte Einzelprogramme von Siemens wie Simatic Step 7, Simatic WinCC und Sinamics Startdrive in einem System zusammenfasst. Für Anwender hat das den Vorteil, dass für sämtliche Aktionen nur noch ein Programm geöffnet werden muss. Außerdem gibt es für die Variablen im System eine gemeinsame Datenbasis, auf die jedes Einzelprogramm zugreift. Gruhler beziffert: „Dies reduziert den Programmier- und Parametrieraufwand erheblich und spart uns bestimmt 20 Prozent Zeit beim Engineering der gesamten Anlage.“
Dabei ist für ihn ein besonderer Höhepunkt, dass nun auch die gesamte Antriebstechnik aus einem Guss projektiert werden kann: „Allein dafür rechne ich mit einer Zeiteinsparung von etwa 30 Prozent“, sagt der Experte. Ein Beispiel verdeutlicht den Zeitgewinn durch Einsatz von TIA Portal in Verbindung mit dem IDS-Ansatz: Würden Motoren anderer Hersteller eingesetzt werden, müssten sämtliche Parameter separat ermittelt und manuell eingegeben werden, was nach Ansicht der Dresdner Anlagenexperten pro Motor etwa eine Viertelstunde Zeit in Anspruch nähme – und das Risiko einer fehlerhaften Eingabe mit sich bringt. Unter TIA Portal dagegen wird der gewünschte (Getriebe-) Motor einfach per Mausklick ausgewählt und die zugehörigen Parameter werden automatisch übernommen – geschätzter Zeitbedarf etwa fünf Sekunden.
Durchgängige Kommunikation bis zum Motor
Gruhler und sein Team können per Remote-Service auf die Parametrierung der Frequenzumrichter in Bulgarien zugreifen, sie auslesen und sogar anpassen. Dies ermöglicht die neue Routing-Funktion der aktuellen Version 13 von TIA Portal. Die Komponenten sind nun zentral über die Steuerung erreichbar. Zum Einsatz kommt im Bulgarien-Projekt eine Simatic Steuerung S7-315 PN/DP. Visualisiert wird mithilfe eines Simatic Touch Panels TP700 von Siemens. Kommunikationstechnisch angeschlossen sind die einzelnen Geräte bzw. Subsysteme an die Steuerung über Profibus. Per Profinet erfolgt die Verbindung zum Scada-System in der Kläranlage. Für künftige Projekte sieht Gruhler weiteres Optimierungspotenzial in der Verwendung der neuen Siemens Steuerung Simatic S7-1500 mit integrierter Motion-Control-Funktionalität und dem direkten Anschluss der gesamten Steuerungs- und Antriebstechnik inklusive der Frequenzumrichter über Profinet.