A&D:
Herr Wagner, mit Mindsphere bietet Siemens seit März eine eigene Cloud-Lösung an. Was kann diese für die Industrie leisten?
Wagner:
Mindsphere ermöglicht es Endkunden oder OEMs, in wenigen Schritten Devices und Assets aus seinem industriellen Umfeld an eine Cloud anzuschließen. Aus den Daten lassen sich Rückschlüsse ziehen über das Verhalten und den Gesundheitszustand, und dies trägt dazu bei, ungeplante Downtimes zu vermeiden sowie den Einsatz von Maschinen und Assets zu optimieren.
Wie muss man sich das vorstellen – werden die Daten noch visualisiert, um den Verantwortlichen bei Entscheidungen zu unterstützen, oder werden aus der Cloud heraus bereits automatisiert die Maschinen und Anlagen gesteuert?
Wir haben Anwendungsfälle, in denen KPIs und deren Zusammenhänge im Zeitverlauf auf Kurven aufgetragen werden, und der Produktionsverantwortliche dies beobachtet, um rechtzeitig reagieren zu können, bevor ein kritischer Zustand erreicht wird. Bei den Automatismen gibt es wiederum einfache regelbasierte Anwendungen, die beispielsweise Alarm geben, wenn ein Maximalwert überschritten wird. Oder es wird ein Event getriggert, wenn innerhalb einer halben Stunde zum dritten Mal ein bestimmter Wert erreicht wird. Wir bieten aber auch echte Analytics an, insbesondere bei großen Datenmengen, die mit dem bloßen Auge oder einfachen Regelanwendungen nicht mehr beherrschbar sind. Da gibt es zum Beispiel Algorithmen, die 2 GB Time-Series-Daten des Kunden auf Anomalien durchforsten können.
Wer ist denn Ihr Kunde – der OEM oder der Endkunde, der die Maschinen betreibt?
Hier gilt: sowohl als auch. Der OEM – das ist bei Siemens sowohl der Hersteller des Motors, des Roboters oder der Pumpe, als auch der Maschinen- und der Anlagenbauer. Die zweite Gruppe sind die Endkunden, bei denen die Kompressoren, Motoren, und so weiter in der Produktion im Einsatz sind, also zum Beispiel ein Automobilhersteller oder ein Getränkeabfüller. Diese beiden Gruppen profitieren in unterschiedlicher Weise von der Cloud. Dem Endkunden geht es darum, dass sein Equipment immer läuft – ein ungeplanter Stillstand verursacht die höchsten Kosten. Jeder Produzent versucht, pro Jahr seine Kosten um drei bis fünf Prozent zu senken. Aber wenn die Abfüllanlage wegen eines Ausfalls drei Tage komplett steht, sind solche Produktivitätsfortschritte komplett zunichte gemacht. Uptime und der Return on Investment auf das Equipment stehen für ihn also an erster Stelle. Danach kommt die Frage, wie eine Anlage effizienter betrieben werden kann, beispielsweise indem Komponenten anders verschaltet oder die Hochfahrkurve eines High-Voltage-Motors angepasst wird. Und an dritter Stelle schließlich folgt die Optimierung der Wartungszyklen.
Und der OEM, welche Erwartungen hat der an die Cloud?
Gerade der deutsche Mittelstand, und insbesondere der deutsche Maschinenbau, der in vielen Branchen und in vielen Nischen Weltmarktführer ist, vertreibt seine Maschinen und Anlagen weltweit. Nicht immer sind in den Regionen, wo die Maschinen im Einsatz sind, auch Service-Organisationen verfügbar. Im Garantie- oder Service-Fall muss bislang häufig noch ein Techniker vor Ort geschickt werden, was Zeit braucht und hohe Kosten verursacht. Dies gilt insbesondere dann, wenn erst beim Auslösen des Service-Falles klar wird, was zu tun ist und welche Ersatzteile benötigt werden. Eine Online-IoT-Verbindung zur Mindsphere-Cloud ermöglicht es dem OEM, sich live über den Gesundheitsstatus des Roboters oder der Pumpe zu informieren. Er kennt das Gerät und weiß, welche Datenpunkte er einsammeln muss, um dies zu ermöglichen. Er kann seinen Service optimieren, zum Beispiel indem er seinen Technikern bereits die benötigten Ersatzteile mitgibt. Es sind aber auch neue Services möglich, etwa wenn der Endkunde mit einer Vorwarnzeit über einen nötigen Austausch von Teilen informiert wird und so ein ungeplanter Ausfall vermieden werden kann. Diese Warnung kann aus der Cloud automatisiert, regelbasiert oder per Algorithmik, generiert werden.
Lässt sich der betriebswirtschaftliche Vorteil durch den Einsatz der Cloud bereits beziffern, haben Sie da vielleicht Erfahrungen aus Pilotprojekten?
Dazu müsste man verschiedene Anwendungsfälle unterscheiden und die sind sehr zahlreich. Da haben wir im Einzelnen noch zu wenige Daten, um tragfähige Durchschnittswerte zu berechnen. Was wir sagen können ist, dass in jedem Pilotprojekt, das produktiv gegangen ist, sehr interessante Effektivitätsgewinne und Einsparpotenziale realisiert werden konnten. Und dass diese höher sind bei den besonders innovativen Kunden.
Kann man umgekehrt sagen, welche Mindestvoraussetzungen ein Kunde mitbringen muss, damit der Einsatz von Mindsphere lohnt?
Das ist das schöne an Cloud-Lösungen: sie sind vollkommen skalierbar. Es gibt also keine hohen Projektkosten, die eine Einstiegshürde darstellen könnten. Man wächst mit der Zahl der angeschlossenen Maschinen und mit der Komplexität der Anwendung. Der Start ist aber bereits mit einer Maschine zu einem überschaubaren Invest möglich.
Was heißt das konkret?
Sie kaufen eine Hardwarebox, zum Beispiel Mindconnect, verbinden die mit der Maschine, legen einen Account an, definieren die Datenpunkte und können innerhalb von einer viertel oder halben Stunde loslegen. Die Hardwarebox ist ein vollständiger Industrie-PC, allerdings gehärtet, also mit einem Gehäuse für raue Umgebungen versehen, vibrationsfest und für einen erweiterten Temperaturbereich geeignet. Zudem ist das Gerät auf diese Spezifikationen vorab getestet. Der Listenpreis für das erste Modell liegt bei 900 Euro, Ende des Jahres kommt eine weitere Variante auf Basis des Galileo-Boards, die preislich deutlich darunter liegt.
Und wie sieht es mit den Sicherheitsaspekten aus?
Wie gesagt, eigentlich handelt es sich um einen vollwertigen Industrie-PC, den wir aber per Software-Lock allein auf die Aufgabe als Knotenpunkt zur Cloud reduziert haben. Er sammelt die Daten der Maschine und reicht diese mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung an die Mindsphere-Cloud weiter. Jede Box hat ihre eigene ID, die bei der Einrichtung des Accounts abgefragt wird und auch bei der Verschlüsselung Verwendung findet. Die Übertragung der Daten zwischen Box und Cloud erfolgt über HTTPS mit 256-Bit-TSL-Verschlüsselung.
Lassen Sie uns nochmals auf die Datenanalyse zurückkommen. Ein Aspekt, der Unternehmen bei der Umstellung auf Industrie 4.0 bremst, ist die Sorge, keine geeigneten Mitarbeiter für die Datenanalyse zu finden. Betrifft das auch den Einsatz von Mindsphere?
Nein, ganz im Gegenteil – es ist unser Anspruch, ein Toolset mitzuliefern, das im Prinzip von jedem bedient werden kann. Die großen IT-Konzerne fahren da ja einen anderen Ansatz. Deren Strategie lautet, so viele Daten wie möglich zu sammeln, und in diesen dann über Machine Learning nach sinnvollen Erkenntnissen zu fahnden. Dazu braucht man aber entsprechende Experten. Wenn ich dagegen von Anfang an weiß, welche Daten ich sammele, dann kann ich bereits über regelbasierte Anwendungen deutlichen Mehrwert erzielen. Auf der SPS IPC Drives werden wir weitere Lösungen in Richtung Algorithmik vorstellen. Vereinfacht gesagt, werden wir Algorithmen konfigurierbar machen.
Und diese Software wird auf der Messe in den Markt eingeführt?
Zumindest eine Beta-Version werden wir dort vorstellen, mit denen der Kunde aber erst mal arbeiten und testen kann. Das ist für Siemens eher untypisch, aber in diesem Umfeld sind Beta-Versionen nichts Ungewöhnliches. Wir starten mit einer Closed-Beta-Phase, in der noch nicht jeder die Software erhalten kann, dann folgt ein Open Beta und schließlich die finale Version, die anhand der Rückmeldungen der Beta-User verbessert wurde.
Inzwischen erkennen ja immer mehr Unternehmer, dass Industrie 4.0 keine Frage der technischen Infrastruktur ist, sondern es auch – oder vor allem – um die Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle geht. Wie ist das bei den Interessenten für die Siemens-Cloud: Wie viele suchen nur eine technische Lösung, und wie viele machen sich tatsächlich schon Gedanken, wie das Business-Modell aussieht, für das sie eine Cloud-Lösung benötigen?
Genaue empirische Daten dazu kann ich nicht vorweisen. Die Frage lässt sich aber zumindest dahingehend beantworten, dass sich die Interessenten in drei unterschiedliche Kundengruppen clustern lassen. Die Ersten haben bereits vor weit über einem Jahr angefangen, Digitalisierungsprojekte aufzusetzen. Die möchten wissen, wie Industrie 4.0 ihnen nutzen kann. Solche Kunden kommen mit sehr, sehr klaren Vorstellungen zu uns. Die zweite Gruppe hat schon erkannt, dass Handlungsbedarf besteht. Das kann technisch motiviert sein, das heißt sie interessieren sich für Industrie-4.0-fähige Infrastruktur. Es kann aber auch businessseitig motiviert sein, nach dem Motto: Hier ergeben sich für mich neue Geschäfts-Chancen. Diese beiden Motivationen sind geschätzt etwa gleich stark. Und schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe, die sich noch gar nicht damit beschäftigt hat, sondern im Dornröschenschlaf verharrt. Die erste Gruppe ist zahlenmäßig am kleinsten, die letzte Gruppe ist diejenige, die am schnellsten abnimmt und dazu beiträgt, dass die zweite Gruppe gerade massiv anwächst.