1979 hat ABB das erste Sicherheitssystem für die Nordsee geliefert. Das ist 35 Jahre her. Wie hat sich die Sicherheitstechnik in den letzten Jahren verändert?
Vor allem hat sich das Bewusstsein der Anwender verändert. Man sieht im Gegensatz zu früher, wie wichtig Sicherheitstechnik für die Prozessindustrie ist. In den letzten 20, 30 Jahren gab es diverse Ereignisse, die dies verstärkt haben. Ich denke da an die Öl-Plattform im Golf von Mexiko, die 2010 explodiert ist, oder das Bhopal-Unglück in Indien 1984. Bei einem Chemiekonzern waren damals aufgrund technischer Pannen mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Umwelt gelangt. Wegen dieser Katastrophen haben sich viele Anwender bewusst gemacht, wie wichtig Sicherheitstechnik ist.
Wie hat ABB auf dieses veränderte Bewusstsein reagiert?
Einen großen Stellenwert nimmt das Thema Beratung ein. Wir haben Institutionen ins Boot geholt, um gefährdete Anlagen zu beurteilen. Und dann haben wir natürlich entsprechende Geräte auf den Markt gebracht, beispielsweise unser Prozessautomatisierungssystem 800xA mit integrierten Safety-Funktionalitäten. Leit- und Sicherheitssystem sind in einem System integriert, das bedeutet: Beide Systeme laufen mit dem
gleichen Controller, beide haben das gleiche Bedien- und Beobachtungsumfeld. So können die Systembeeinträchtigungen minimiert werden, die durch den immer vorhandenen Faktor Mensch ausgelöst werden können. Ein gutes Beispiel ist das funktionale Thema Alarmmanagement. Dies hilft, dass der Anlagenfahrer, wenn es darauf ankommt, die richtige Entscheidung trifft – nicht nur für das Prozessleitsystem, sondern auch für das Safety System.
Integrated Safety kommt also gut bei den Anwendern an?
Die Nachfrage nach Integrated Safety ist gut. Aber es gibt natürlich Anwendungsfälle, bei denen Integrated Safety keinen Sinn machen würde.
Welche Anwendungsfälle sind das?
In kleineren Anlagen reicht es möglicherweise aus, eine kleine SPS als Steuerung einzusetzen. Aber selbst dort lässt sich mit dem System 800xA arbeiten. Wir bieten das Safety-System mittlerweile nämlich auch als Stand-Alone-Variante an.
Welchen Mehrwert bietet das Prozessautomatisierungssystem 800xA neben dem Alarmmanagement außerdem?
Wir legen mit dem System einen großen Wert auf die Bedienereffizienz. Neben Engineering-Vorteilen ist es uns besonders wichtig, dass die Anlagenfahrer das System so nutzen können, dass es höchst effektiv ist. Denn am Ende – trotz der Automatisierung, die in den Anlagen herrscht – sitzt da immer noch ein Mensch und bedient die Anlage. Und da gibt es großes Potenzial, etwas richtig oder falsch zu machen. Potenzial gibt es auch beim Einsparen von Betriebskosten und in Wartungsszenarien: Wie schnell kann ich in einer Anlage ein defektes Teil austauschen, wie schnell bemerke ich das überhaupt? Da gibt es mit 800xA diverse Möglichkeiten.
Wie können beispielsweise mit der Wartung Betriebskosten sparen?
Anlagenfahrer müssen bei einem Ausfall schnell lokalisieren, wo die Störung aufgetreten ist und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. So gilt beispielsweise bei einem Pumpen- oder Motorenausfall, sofort die Wartung zu informieren und einen Geräteaustausch zu initiieren. Das wäre ein Szenario, bei dem man mit effektivem und schnellem Datenmanagement Zeit gewinnt, um Anlagen ohne lange Ausfallzeiten wieder ins Laufen zu bekommen. Oder noch besser: Wenn ein Assetmanagement intensiv benutzt wird, kann man schon vorausschauend bemerken, dass eine Komponente in nächster Zeit ausfallen könnte – Stichwort proaktive Wartung.
Welche Probleme bestimmen heutzutage den Alltag der Anlagenfahrer? Wie kann ein Prozessautomatisierungssystem da unterstützen?
Das Hauptthema ist die Flut an Informationen. Jedes Gerät setzt heutzutage Hunderte von Datensätzen ab. Und diese ganzen Daten richtig auszuwerten, richtig zu beurteilen – das ist eine große Herausforderung für die Anlagenfahrer. Deshalb ist es wichtig, dass das System Filtermöglichkeiten anbietet. So wird der Anlagenfahrer von vornherein nur mit den Dingen konfrontiert, die wirklich von Bedeutung sind. Da gibt es heute intelligente Mechanismen, die diese Flut an Daten eingrenzen. Beim Hochfahren einer Anlage wird beispielsweise eine Vielzahl von Alarmen angezeigt, die im alltäglichen Betrieb keine hohe Priorisierung mehr haben.
Die neue Version 6 des Systems 800xA richtet sich unter anderem an Nutzer von Windows XP. Warum sollte man auf Windows 8 umsteigen?
Microsoft hat den Support für XP eingestellt. Für die Verantwortlichen einer Produktionsanlage bedeutet dies, dass sie kein System laufen lassen sollten, das nicht in vollem Umfang gegenüber Schädlingssoftware geschützt ist. Das ist ein enormes Risiko. Es gibt viele Behörden und Versicherungen, die darauf hinweisen, dass solchen Anlagen nicht mehr betrieben werden sollten. Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir mit der neuen Version 6 ein Windows-8-basiertes System herausgebracht haben. Welche Neuheiten noch in der Version stecken, erläutern wir unseren Kunden übrigens auf der World Control Tour am 30. September in Ladenburg.
Das System 800xA unterstützt auch Wireless-Kommunikation. Wie sieht diesbezüglich die Akzeptanz aus? Setzen Anwender nach wie vor lieber auf die altbewährte Kabeltechnik?
Das hängt davon ab, wovon man bei Wireless redet. Wenn ich die Instrumentierung im Feld betrachte, dann ist die Akzeptanz noch nicht so hoch, wie sich dies der ein oder andere vorgestellt hat. Es gibt sehr wohl die Möglichkeit, Diagnose über Wireless-Geräte zu betreiben. Das kommt häufiger vor. Aber als Einbindung mit Datenaustausch, in Verbindung mit einem Prozessleitsystem, ist Wireless momentan nicht sehr verbreitet. Und bei uns in Europa gibt es nur wenige Neuanlagen. Die bestehenden Kommunikations-Infrastrukturen basieren meist auf Kabel. Deshalb gibt es nur wenig Druck, bei der Datenkommunikation auf Wireless umzusteigen.
Anders sieht es bestimmt bei der Bedienung von Anlagen über Tablets aus, oder?
Ja, da gibt es eine große Akzeptanz. Das wird in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Auf den zentralen Kontrollraum wird man trotzdem nicht verzichten können, aber für das Wartungspersonal, das verstreut in Anlagen unterwegs ist, ist die Wireless-Kommunikation über Tablet-Geräte von großem Vorteil.
Ein großes Thema ist Industrie 4.0. Wie schätzen Sie die Entwicklung bisher ein?
Jeder redet darüber, es gibt aber nur wenige, die wissen, was hinter diesem Schlagwort wirklich steckt. Stark vereinfacht ausgedrückt: Die Technologien aus der Internetwelt sollen künftig auch Einzug in die Produktionsanlage halten. Es geht darum, die realen Objekte in Produktionsanlagen wie Pumpen, Steuerungen oder Motoren digital im Netz abzubilden. Im nächsten Schritt sollen diese Daten gesammelt, ausgetauscht und verknüpft werden. Revolutionär ist dabei nicht unbedingt die Technik, denn die Möglichkeiten, Daten im Internet bereitzustellen, existieren bereits. Es geht vielmehr um das Zusammenspiel dieser Daten und die Möglichkeiten, die daraus für die Smart Factory entstehen können.
Passt denn das System 800xA schon jetzt in den Gedanken von Industrie 4.0?
Wir haben – und das sagen wir nicht ohne Stolz – schon seit einigen Jahren mit dem System 800xA eine Plattform geschaffen, die schon viele Gedanken von Industrie 4.0 implementiert: Reale Objekte werden moduliert, ihnen werden Software-Repräsentanten gegeben. Alles wird letztendlich auf einem Server des Gesamtsystems abgelegt. Bei uns läuft das unter dem Begriff Aspect Object Technology.
Sind denn die dafür notwendigen Kommunikationsprotokolle eigentlich schon in Entwicklung?
Ja, vieles ist angedacht, einiges ist auch schon Realität. Aber sicherlich noch nicht alles. Man redet ziemlich schnell nur über die Internettechnologie. Aber für all die unterschiedlichen Gewerke in einer Produktionsanlage, die eine andere Sprache sprechen, stellt der tolle Daten-Highway noch keine Lösung parat. Es müssen gemeinsame Kommunikationsprotokolle her, die den Highway auch effektiv nutzen können. FDI ist eine solche Lösung, für die wir in der Foundation sehr aktiv mitarbeiten. Da rechnen wir Anfang nächsten Jahres mit der Veröffentlichung erster Normen. Aber es braucht noch weitere Ansätze, deswegen sind wir als ABB wie andere Unternehmen auch in vielen Gremien aktiv und diskutieren Integrationstopologien, die beschreiben, wie Daten ausgetauscht werden sollen. Das ist heute zum Teil im Forschungsstadium, aber ich sehe zurzeit schon deutliche Schritte vorwärts. Es muss Ziel und Zweck sein, dass die Dinge miteinander reden können. Die Standardisierung ist ohne Frage eine der größten Herausforderungen für Industrie 4.0.