Digitalisierung in der Impfstoffherstellung Mehr Tempo in der Impfstoffentwicklung

Mit Siemens zusammen möchte das Gesundheitsunternehmen GSK die Impfstoffherstellung digitalisieren und dadurch beschleunigen.

Bild: iStock, Nonowon
04.03.2022

Das weltweit tätige Gesundheitsunternehmen GSK optimiert zusammen mit dem Digitalisierungsexperten Siemens und dem IT-Spezialisten Atos seine Impfstoffentwicklung und -herstellung. Die Digitalisierung des gesamten Prozesses soll unter anderem die Entwicklungszeit deutlich verkürzen, damit die Impfstoffe schneller und in der richtigen Qualität zu den Menschen gelangen können.

Impfungen schützen vor ansteckenden Krankheiten und sind eine der wichtigsten und wirksamsten Präventionsmaßnahmen. Das Prinzip der Impfung beruht dabei auf der Stärkung der eigenen Immunabwehr. Mit dem Impfstoff erhält der Körper einen geringen Anteil der Substanzen, die aus dem Krankheitserreger abgeleitet sind. Das Immunsystem reagiert, indem es die entsprechenden Immunzellen entwickelt und diese schützenden Zellen als eine Art Immungedächtnis speichert.

Nicht nur der Geimpfte baut durch die Impfung einen Schutz vor der Krankheit auf – in manchen Fällen verbreiten sich durch hohe Impfquoten in der Bevölkerung die einzelnen Krankheitserreger schlechter (sogenannte Herdenimmunität) und können dadurch eventuell sogar ausgerottet werden.

Der lange Weg zum fertigen Impfstoff

Die Impfstoffentwicklung ist zumeist ein kostspieliger und langwieriger Prozess. Ausgangspunkt ist immer die Biologie – Lebendproben oder genetische Sequenzen des Erregers. Zunächst analysieren Forscher, welche Bestandteile besonders wichtig sind und wo eine Immunantwort also effektiv ansetzen könnte. Das dauert oft mehrere Jahre, ist aber für die Impfstoffentwicklung zentral.

Darauf folgen mehrere strenge Testphasen, um die Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffkandidaten nachzuweisen. Ist der Impfschutz belegt und weist der Impfstoff ein gutes Sicherheitsprofil auf, kann das herstellende Unternehmen die Zulassung beantragen. Parallel dazu entwickelt das Unternehmen die Methode, um den Impfstoff effizient und robust herzustellen. Diese Phase ist langwierig und erfordert viele Experimente. Sie beginnt in kleinem Maßstab im Labor.

Der Prozess wird geplant, wissenschaftliche Erkenntnisse werden gewonnen, um die Auswirkungen aller Prozessparameter auf die Produktqualität zu verstehen. Anschließend wird der Prozess in einer Pilotanlage hochskaliert, um seine Robustheit zu überprüfen, bevor er in den Produktionsmaßstab übertragen wird. Der Produktionsbetrieb bereitet die Massenproduktion vor und richtet entsprechende Produktionsanlagen ein.

Beschleunigungsfaktor Digitalisierung

Momentan läuft die Impfstoffentwicklung in vielen kleinen Silos, die jeweils mehr oder weniger digitalisiert, jedoch wenig miteinander verknüpft sind. Oft ist eine Gruppe auf die Fertigstellung der Arbeit eines anderen Teams angewiesen, um auf dessen Daten zugreifen zu können. Hier besteht Optimierungspotenzial.

Eine deutliche Verbesserung würde die Betrachtung des gesamten Prozesses und die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette bringen: Sie würde einen einfacheren und frühzeitigen Zugriff auf die Ergebnisse, schnelleres und umfassenderes Feedback, eine bessere Vorhersagbarkeit und gemeinsame Nutzung der Ergebnisse sowie eine bessere Übersicht über den gesamten Prozess ermöglichen.

Siemens bietet dafür ein innovatives Portfolio an Digital-Enterprise-Lösungen. Der ganzheitliche Ansatz umfasst das Produktdesign, also die Impfstoffentwicklung und die Wirkstoffherstellung (Primary Processing), sowie die Arzneimittelherstellung (Secondary Processing). Gemeinsam mit GSK haben Siemens und Atos ein innovatives Konzept – den digitalen Zwilling – entwickelt, mit dem die virtuelle und die reale Welt in einem Regelkreis (Closed Loop) verschmelzen.

Mit dem digitalen Zwilling, einem virtuellen Abbild der Realität, lassen sich Prozessschritte zunächst in einer virtuellen Umgebung testen und so Erkenntnisse gewinnen. Wird der digitale Zwilling mit einem laufenden Prozess verknüpft, sagt er die Performance des Prozesses vorher, erkennt jede Abweichung und nimmt entsprechende Korrekturen für eine optimale Produktion vor. Dadurch können Impfstoffe schneller entwickelt und stets mit den bestmöglichen Informationen hergestellt werden. Dies trägt auch zu einer zuverlässigen Impfstoffversorgung bei. Die erfassten Daten aus den Echtläufen werden durch maschinelles Lernen in die Modelle – das „Gehirn“ des digitalen Zwillings – zurückgespielt und helfen so, den digitalen Zwilling sowie die Produkte und Prozesse frühzeitig zu optimieren.

Zwillinge des gesamten Prozesses

GSK stellt täglich rund zwei Millionen Impfstoffdosen her und zählt damit zu den größten Anbietern weltweit. Jetzt setzt GSK auf den Beschleunigungsfaktor Digitalisierung: Das Unternehmen möchte zusammen mit Siemens digitale Zwillinge des gesamten Impfstoffherstellungsprozesses für alle neuen Impfstoffe aufbauen und einführen.

Die digitalen Zwillinge von Produkt, Produktion und Performance werden also miteinander verknüpft. Der Mehrwert von digitalen Zwillingen ist bei biologischen Prozessen, oder wenn Prozessteile wie physikalische Modelle besser verstanden werden sollen – also solchen wie dem Impfstoffprozess – besonders hoch. Das Qualitätsmanagement wird dank des Einsatzes von Softsensoren und der Prozessanalysetechnik (PAT) verbessert.

Teilprozess: Adjuvantienherstellung

GSK setzt bei seinen Impfstoffen auf die Verwendung von Adjuvantien, also solchen Zusätzen im Impfstoff, die die Immunreaktion verstärken. Diese können eine wichtige Rolle für den Schutz von Menschen mit einem schwächeren Immunsystem spielen, etwa bei älteren Erwachsenen und immungeschwächten Menschen, und auch die erforderliche Antigen-Menge pro Impfdosis verringern. So können in Zeiten erhöhter Nachfrage gleichzeitig mehr Impfdosen zur Verfügung gestellt werden.

In einer ersten Anwendung zum Testen des digitalen Zwillings haben GSK, Siemens und Atos einen digitalen Zwilling als Proof-of-Concept speziell für die Entwicklung und Herstellung von Adjuvans-Technologien aufgebaut. Atos steuerte seine Expertise in Sachen IT-Infrastruktur, Beratung, Integration und Data Science bei, Siemens seine Expertise im Bereich Digital Enterprise und GSK den Business Case, die Daten und seine Expertise in der Produkt- und Prozessmodellierung.

Für die Simulation musste zunächst die „Black Box“ der Adjuvans-Partikel entschlüsselt werden. Mit Hilfe mechanistischer Modelle und Künstlicher Intelligenz (KI) entwickelten die Partner ein hybrides Modell, um den Prozess zu simulieren und zu kontrollieren. Der digitale Zwilling verknüpft dabei die Prozessparameter mit der Qualität des Adjuvans. Die Sensoren und die Prozessanalysetechnik (PAT) liefern dem Zwilling die benötigten Informationen, um die Qualität des Produkts vorherzusagen. Jede Abweichung von der optimalen Qualität wird erkannt und führt dazu, dass der Zwilling auf die Prozessparameter einwirkt, um diese entsprechend den Sollvorgaben zu korrigieren. Der entstandene digitale Prozesszwilling basiert somit auf Simulation, künstlicher Intelligenz, Automation und PAT.

Dabei kommen verschiedene Softwarelösungen zum Einsatz: Mit Simatic Sipat steht PAT bereit, die ab der Produktentwicklung die uneingeschränkte Datentransparenz sicherstellt und korrelierte Daten an den Prozess zurückgibt. Das Totally Integrated Automation Portal (TIA-Portal) integriert Hardware, Software und Services. Es ermöglicht den vollständigen Zugriff auf die gesamte digitalisierte Automatisierung und bildet die Basis für den Engineering-Prozess der Implementierung. Simulationssoftware kam bei der Prozessmodellierung und -visualisierung zum Einsatz. Auch Machine Learning unterstützt den Prozess. Eine besondere Herausforderung in der Adjuvans-Simulation spielte der Faktor Zeit.

Da die Simulation der Adjuvans-Partikel sehr rechenintensiv ist, beträgt die Rechenleistung mehrere Stunden. Das ist für die Echtzeitfähigkeit des Zusammenspiels von digitalem Zwilling und Realität ein Problem. Aus diesem Grund haben die Projektpartner den dargestellten Prozess extrahiert und mithilfe numerischer Strömungsmechanik (CFD) simuliert. Auf diese Weise konnten sie die Simulations-Files verschiedener Fälle im Vorhinein erstellen und speichern. In Kombination mit den Daten aus der statistischen Versuchsplanung (DoE) und Machine Learning erhalten sie so die Möglichkeit, die entstehenden Adjuvans-Partikel für jegliche Veränderungen der ausschlaggebenden Parameter vorherzusagen. So ist die Echtzeitfähigkeit des Modells gegeben. Im weiteren Projektverlauf sollen die nächsten digitalen Zwillinge von Teilprozessen entstehen.

Mit digitalen Zwillingen lassen sich nun Daten erfassen, um genau zu verstehen, was während der Impfstoffherstellung in Echtzeit geschieht und wie sich die Abläufe weiter optimieren lassen. Sie ermöglichen nicht nur die Kontrolle komplexer Prozesse, sondern auch Vorhersagen, wie sich Veränderungen auf die Prozesse auswirken würden. Damit können Forschende Simulationen in wenigen Stunden durchführen, statt Versuchsanlagen zu bauen.

Dieses neue Modell liefert basierend auf künstlicher Intelligenz, Maschinenlernverfahren, prädiktiven und präskriptiven Modellen neue Erkenntnisse für die Entwicklung und umfassende Kontrolle über den Impfstoffherstellungsprozess. Es ermöglicht einen robusteren Prozess mit verbesserter Produktqualität und trägt so dazu bei, mehr Impfstoffe schneller an die Menschen zu liefern, die sie benötigen.

Bildergalerie

  • Da die Simulation der Adjuvanspartikelbildung sehr rechenintensiv ist, haben die Projektpartner die durch numerische Strömungsmechanik generierten Simulationen in ein Machine-Learning-Modell überführt. Dieses Modell fließt in den virtuellen Prozess ein und erhält dessen Echtzeitfähigkeit.

    Da die Simulation der Adjuvanspartikelbildung sehr rechenintensiv ist, haben die Projektpartner die durch numerische Strömungsmechanik generierten Simulationen in ein Machine-Learning-Modell überführt. Dieses Modell fließt in den virtuellen Prozess ein und erhält dessen Echtzeitfähigkeit.

    Bild: Siemens

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