Projekt Evolpro Natürliche Evolution auf Produktionstechnik übertragen

Kann sich industrielle Produktionstechnik so flexibel entwickeln, wie es in der natürlichen Evolution passiert?

Bild: Fraunhofer IPT
26.06.2023

Was kann die Produktionstechnik von der Natur lernen? Sieben Fraunhofer-Institute haben im Projekt EVOLOPRO Elemente der Flexibilität und Selbstanpassung analysiert und auf die Fertigung komplexer Bauteile übertragen. Das Ziel: sogenannte Biological Manufacturing Systems.

In der Wirtschaft gibt es vielfältige Gründe für neue Produktanforderungen: Technische Innovationen, gesetzliche Änderungen oder unternehmerische Entscheidungen sind nur einige davon. Üblicherweise führen solche Veränderungen zu Neuauslegungen von Produkten und Produktionsprozessen.

Vor allem bei sich rasch ändernden Anforderungen erweist sich dieses zeitaufwendige Vorgehen oft als nicht zielführend, weil die Planung im Grunde immer bei Null startet. Informationen und Daten über frühere Produktvarianten und Produktionsprozesse können, nicht zuletzt aufgrund fehlender technischer Infrastruktur, nicht umfänglich genutzt werden.

Die Natur hingegen baut stets auf Bestehendem, also auf vorhandenen „Datensätzen“ auf und vollzieht auf deren Basis evolutionäre Veränderungen. Sie nutzt darüber hinaus alle Anpassungen, ob erfolgreich oder nicht, um aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen, die sie bei weiteren Entwicklungen einbezieht.

Evolution als Vorbild für lernende Produktionssysteme

Im vierjährigen Fraunhofer-Leitprojekt „EVOLOPRO – Evolutionäre Selbstanpassung komplexer Produktionsprozesse und Produkte“, das kürzlich erfolgreich abgeschlossen wurde, analysierten mehr als 50 Forscherinnen und Forscher aus sieben Fraunhofer-Instituten verschiedene Mechanismen der natürlichen Evolution von Organismen unter sich verändernden Umweltbedingungen und übertrugen diese auf moderne Fertigungsprozesse. Neben der allgemeinen Evolutionstheorie von Charles Darwin schenkten sie dabei der „Theorie der Erleichterten Variation“ besonderes Augenmerk. Diese unterteilt die Fähigkeit zur raschen Anpassung in verschiedene „Elemente der Flexibilität“, zu denen etwa Modularität und Hierarchie gehören.

Die evolutionsbiologischen Elemente und Mechanismen nutzten die Forscherinnen und Forscher, um eine neue Generation von „Biological Manufacturing Systems“ (BMS) zu konzipieren. BMS sind fähig, sich wie biologische Organismen selbstständig an neue Anforderungen und Umgebungsbedingungen anzupassen. Sie benötigen dafür allerdings anders als die Natur mehrere Jahrhunderte.

Durch aktuelle Errungenschaften der Industrie 4.0, so die These des Teams, können Anpassungen aber innerhalb kürzester Zeit vollzogen werden. „Das große Feld der Digitalisierung schafft beste Voraussetzungen für die angestrebte produktionstechnische Evolution“, sagt Projektleiter Tim Grunwald vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT.

Biologisch inspirierte Algorithmen

Für die Umsetzung der Biological Manufacturing Systems setzten die Projektpartner zum einen auf neue, der Biologie nachempfundene Algorithmen, zum anderen auf datenbasierte digitale Zwillinge, die mit einer digitalen Umwelt interagieren. Das Projektteam entwickelte hierfür ein Konzept für einen mehrstufigen digitalen Zwilling, das – in abgewandelter Form – auch auf eine mehrstufige digitale Umwelt übertragen wurde. Beide Konzepte lassen sich flexibel in bestehende Softwareumgebungen wie etwa CAM-Systeme integrieren.

Die biologisch inspirierten „Algorithmen der Erleichterten Variation“ sind teils bestehende, teils im Rahmen des EVOLOPRO-Projekts neu geschaffene mathematische Hilfsmittel, die dem digitalen Zwilling den Weg der Evolution ermöglichen. Sie operieren im Hintergrund auf einer „digitalen Hilfsebene“ und laufen permanent parallel zum realen Produktionsprozess, um einen kontinuierlichen, datenbasierten Lernprozess zu ermöglichen.

Validierung in drei Produktketten

Die Wirksamkeit der Konzepte und Algorithmen wurde an drei Produkt- und Prozessketten erprobt: der Pilotkette „Aviation“, der Pilotkette „Optics“ und der Pilotkette „Automotive“. Alle drei Testreihen schlossen mit Erfolgen und neuen Erkenntnissen ab.

In der Pilotkette Aviation konnte das Projektteam auf Basis der biologisierten Algorithmen und Konzepte eine Simulationsumgebung zur modellbasierten Prozessplanung und -auslegung fertigstellen. Mithilfe dieser sogenannten Testbench konnte das Team den Aufwand für die Prozessplanung und den Einfahrprozess für die Fräsbearbeitung einer Blade Integrated Disk (Blisk) – einer hochkomplexen Turbomaschinenkomponente – sowie einer Variation des Blisk-Designs deutlich senken.

In der Pilotkette Optics gelang es, die Digitalisierung in der Fertigung komplexer Glasoptiken deutlich zu verbessern. So konnte das Team die simulierten Ergebnisse direkt zurück ins Optikdesign und in die Optikmontage einfließen lassen. Indem Planung und Umsetzung deutlich näher aneinander gerückt wurden, steigerte das Team Schritt für Schritt die Flexibilität des Gesamtprozesses. Darüber hinaus entwickelten die Forscherinnen und Forscher ein selbstlernendes Verfahren für die automatisierte Montage optischer Komponenten, das deutlich weniger Arbeitsschritte erfordert als alle bisherigen Montage-Algorithmen.

In der Pilotkette Automotive wurde eine vollständig modellbasiert geregelte Karosseriefertigung errichtet, die das komplette Potenzial einer automatisierten, selbstlernenden Industrie 4.0-Karosseriebau-Anwendung ausschöpft. „Die Pilotketten hatten grundlegend unterschiedliche Anforderungen und Charakteristika“, sagt Grunwald. „Die erreichten Ergebnisse sprechen demnach für die Universalität des verfolgten Projektansatzes.“

Standortübergreifende Datenbearbeitung

Um die große Menge der gesammelten Prozessdaten aus den drei EVOLOPRO-Pilotketten zentral zu speichern und den Datenaustausch zwischen den Fraunhofer-Instituten zu erleichtern, baute das Projektteam eine sogenannte Data-Lake-Architektur auf. Dabei handelt es sich um eine cloudbasierte Anwendung, die beispielsweise über einheitliche Datenschnittstellen und für jede Domäne spezifische Beschreibungsmodelle – sogenannte Ontologien – zur eindeutigen Zuordnung der hochgeladenen Daten verfügt.

Die Cloud-Architektur ermöglichte den Teams einen standortübergreifenden, automatisierten Datenaustausch. Projektleiter Grunwald sieht hier ein besonders großes Potenzial: „In der Produktion sind eindeutig gekennzeichnete Daten oft rar und teuer zu erstellen. Zudem ist es sehr aufwendig, eine Datenbasis auf Grundlage von Simulationen zu erschaffen. Genau hier können unsere technologischen Entwicklungen aus dem EVOLOPRO-Projekt einer direkten wirtschaftlichen Verwertung zufließen.“

In weiteren auf EVOLOPRO aufbauenden Forschungsprojekten sollen nun die Konzepte des digitalen Zwillings und der digitalen Umwelt noch weiter ausgearbeitet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse aus den Pilotketten wollen die Forschungsteams gezielt in Richtung Marktreife und Industrialisierbarkeit weiterentwickeln.

Förderung und Projektpartner

Das vierjährige Fraunhofer-Leitprojekt „EVOLOPRO – Evolutionäre Selbstanpassung von komplexen Produkten und Produktionsprozessen“ wurde auf Beschluss des Vorstands der Fraunhofer-Gesellschaft 2018 ins Leben gerufen und vom 1. Januar 2019 bis zum 31. März 2023 gefördert. Projektpartner waren:

  • Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT, Aachen

  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, Sankt Augustin

  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik IOF, Jena

  • Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, Freiburg

  • Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS, Dresden

  • Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU, Chemnitz

  • Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI, Sankt Augustin

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