Bereits vor rund sieben Jahren legten Ihre drei Unternehmen mit SEAP den Grundstein für eine langanhaltende Partnerschaft. Wo stehen Sie heute bei Ihrem Ziel der durchgängigen Digitalisierung?
Seitz:
Wir haben die durchgängige Digitalisierung des Engineerings und der Produktionsprozesse bereits erfreulich weit vorangebracht. Am Anfang haben uns Datenstrukturen gefehlt, weil unklar war: Wie reden wir eigentlich miteinander auf einer digitalen Ebene? Wir haben dann mit der standardisierten Beschreibung auf Komponentenebene begonnen, denn wenn es hier schon nicht stimmt, dann funktionieren auch alle nachgelagerten Prozesse nicht. Erst, wenn im Engineering mit allen Komponenten die Datenbasis stimmt, lassen sich auch digitale Zwillinge eines ganzen Schaltschranks und kompletter Anlagen mit echtem Mehrwert generieren. Aber sind wir schon am Ziel? Nein! Die saubere Datendurchgängigkeit wird uns weiter beschäftigen, vor allem durch die Vielzahl an Herstellern und Komponenten.
Dr. Possel-Dölken:
Genau das ist das Thema. Es fehlt heute weniger an der Theorie, den Standards oder den Datenmodellen, sondern es fehlt an der konsequenten Umsetzung bei allen Komponenten. Wir haben in unserer Partnerschaft mit Rittal und Eplan als Treiber der Datendurchgängigkeit natürlich all´ unsere Komponenten und Systeme vollständig digital beschrieben. Allein wir von Phoenix Contact haben über 100.000 Produkte auf dem Markt. Auch viele Anbieter von Automatisierungskomponenten bieten schon sehr gut aufbereitete, standardisierte digitale Modelle ihrer Komponenten an. Doch am Ende des Tages sind die Vielzahl an Herstellern und Varianz an Komponenten einfach zu groß, um dann in der Praxis bei Maschinen, Schaltschränken und ganzen Anlagen ebenfalls bereits vollständige digitale Modelle generieren zu können. Wir müssen also alle in der Industrie gemeinsam daran arbeiten, dass die digitalen Daten der Produkte zu 100 Prozent stimmig sind. Sind nur 98 Prozent korrekt, kann es schon wieder zu Problemen kommen. Details machen hier den Unterschied.
Scharf:
Durchgängige Prozesse benötigen einfach durchgängige Daten, das ist das A und O! Nehmen wir den Steuerungs- und Schaltanlagenbau. Fast alle Steuerungsbauer haben viele Endkunden, jeder dieser Kunden verfügt wieder über seine eigenen Spezifikationen und Firmenstandards. Deshalb kommt eine hohe Varianz an Komponenten diverser Hersteller zum Einsatz. Ich kann vom Leid einiger großer Steuerungs- und Schaltanlagenbauer berichten, die 60.000 Artikel und mehr verwalten müssen. Jeder dieser Artikel besteht wieder aus mehreren hundert Daten, die manchmal stimmen, manchmal aber eben nicht. Es gibt leicht Widersprüche. Das ist in der Praxis bei der Varianz an Herstellern und Produkten schon eine extreme Herausforderung, an der alle Komponenten-Hersteller arbeiten müssen. Ein Aha-Erlebnis gab es für mich vor ein paar Jahren, als wir in der Entwicklungsphase unseres neuen Schaltschranksystems VX25 waren. Wir fragten unsere Kunden, was wir an den bisherigen Schaltschränken besser machen könnten, welche Wünsche sie haben. Die erste Antwort war überraschend, denn mechanisch sollten wir den Schrank so lassen wie bisher, der wäre gut wie er ist. Lediglich das Engineering und die Daten sollten wir noch verbessern. Zum Schluss haben wir beides getan, mechanisch verbessert, aber insbesondere auf effizientes Engineering und optimale Daten geachtet. Am Engineering-Aspekt arbeiten wir immer noch weiter – und damit der Datendurchgängigkeit aller verbauten Komponenten vom Engineering des Schranks bis hin zum Betrieb. Die Wünsche der Kunden haben gezeigt, wie sehr wir mit unserer gemeinsamen SEAP-Initiative das Grundproblem der Digitalisierung im Schaltanlagenbau adressiert haben. Und auf Komponentenseite haben wir dank SEAP wirklich schon viel bewirken können in der Industrie.
Im Umkehrschluss heißt das aber doch auch, die unzähligen Engineering-, Simulations- und Konfigurationstools sollten sich ebenfalls strikt an standardisierte Datenmodelle halten?
Dr. Possel-Dölken:
Genau das haben wir getan. Und der Schlüssel für einen verlustfreien und vollständigen Datenaustausch sind natürlich die Datenschnittstellen auf Basis etablierter Standards. Denn es ist illusorisch zu glauben, dass überall die gleiche Software verwendet wird. Vielmehr sind eine Vielzahl von Applikationsbausteinen und Software-Services im Einsatz, die aber problemlos miteinander kommunizieren können müssen. Ganz wichtig dabei ist die Kommunikation in beide Richtungen. Ändere ich im Engineering-Tool an einem Bauteil etwas, müssen die Auswirkungen auch gleich in der Simulation der ganzen Anlage sichtbar sein. Und genauso umgekehrt. Werden im virtuellen Betrieb Änderungen gemacht, so müssen die Auswirkungen oder notwendigen Änderungen im Entwicklerwerkzeug beim kleinsten Bauteil gleich sichtbar sein. Nur so funktioniert eine effiziente Optimierung, alle Daten sind immer und überall „up-to-date“ und stimmig. Und das ist ein Kern unserer SEAP-Arbeit gewesen: diese Datenflüsse und Datenstände zwischen unseren Tools sehr umfassend umsetzen zu können.
Scharf:
Und ein Bestreben von SEAP ist auch das Durchsetzen von herstellerneutralen und standardisierten Lösungen. Dafür stehen alle Unternehmen in unserer Runde, wir wollen offene Standards im Markt etablieren.
Sind die standardisierten Datenmodelle, einem Kernpunkt von SEAP, auch die Grundlage, um dann in der Produktion einfacher Mehrwerte aus den Maschinendaten ziehen zu können?
Seitz:
Absolut! Saubere und vollständige, digitale Modelle sind die notwendige Grundlage. Nehmen wir als Beispiel eine Werkzeugmaschine. Für ein vollständiges Monitoring der Maschine sind sehr viele Datenpunkte notwendig. Hier sollten sie beispielsweise genau wissen, welcher Sensor mit welchem Aktor verbunden ist, um die Daten semantisch und logisch besser interpretieren zu können. Sonst ist es ein unglaublicher Aufwand, überhaupt festzustellen, ob und warum sich Anomalien in den Daten befinden und was diese bedeuten. Über die digitale Beschreibung dieser Werkzeugmaschine, und hier speziell der Automatisierungstechnik in Form des Schaltplans, kann ein hohes Maß an Datentransparenz sehr einfach erzeugt werden.
Scharf:
Für die Betriebsphase ist entscheidend, dass die Daten aus dem Engineering und Bau der Anlagen vollständig vorhanden sind und auf aktuellem Stand vorliegen. Das hilft den Betreibern einerseits bei Instandhaltung und Fehlersuche. Andererseits können diese Daten auch die Digitalisierung einer Smart Factory beschleunigen. Die Grundlage für smarte Fertigung ist die vollständige digitale Integration aller Anlagen. Das bedeutet Tausende von Datenpunkten, deren Rolle Sie im Kontext der Fertigungsoptimierung verstehen und ihre Zusammenhänge zuordnen müssen. Mit einem lückenlosen digitalen Anlagen-Zwilling gelingt das leider auch nicht auf Knopfdruck, aber immerhin erheblich schneller. Das ist die Domäne unserer Schwestergesellschaft German Edge Cloud. Mit der so geschaffenen Transparenz erreichen Sie schon Optimierungen, noch lange bevor Sie wirklich smart Steuern. Wenn alle Daten durchgehend im Zugriff sind, dann lässt sich schon durch den neuen Durchblick mehr Effizienz in die Fabrik bekommen.
Dr. Possel-Dölken:
Der entscheidende Punkt ist: Wir als Anbieter von Automatisierungslösungen müssen genauso wie Rittal selbst in der eigenen Fertigung lernen und ausprobieren, wo es hakt und wo Probleme entstehen können. Wenn ich nur am Schreibtisch sitze und Produkte konstruiere, arbeite ich am Markt vorbei. Und das gilt insbesondere auch für die Datendurchgängigkeit unserer SEAP-Initiative. Denn nur im realen Betrieb werden Probleme und Herausforderungen sichtbar. Natürlich sind die eigenen Anwendungsfälle nur wenige von vielen, aber wir bekommen ein Gefühl dafür, welche Fragen wir dann beim Kunden und in seiner Umgebung stellen müssen. In unserem Werk in Bad Pyrmont haben wir im Rahmen unserer Digital Factory Now-Initiative einen umfassenden Digitalisierungsansatz in Produktion umgesetzt vom Shop Floor Management bis zur cloud-basierten Überwachung. Spannend für die Zukunft sind die Fragestellungen, wo es um die Überwindung von Sektorgrenzen geht. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Verbindung von Fabrik- und Gebäudeautomation. In einer Spritzgießfertigung spielt beispielsweise die Luftfeuchtigkeit für die Prozessqualität eine Rolle, ein Datum, dass in der Gebäudeleittechnik beheimatet ist. Heute ist es oftmals aufwändig, solche Daten über die Grenzen der jeweiligen Domäne hinaus zu transportieren. Die Realisierung solcher Datenflüsse ist in vielen Fällen zu teuer. Wenn man Nutzen aus Daten ziehen will, muss man durchgängige Kommunikationssysteme in den jeweiligen Domänen umsetzen und auf Daten- und Schnittstellenstandards setzen wie die durch die Industrial Digital Twin Association standardisierte Verwaltungsschale oder OPC UA.
Das klingt dann natürlich schon nach der hohen Kunst der Digitalisierung. Aber kommen wir zu einem augenscheinlich völlig banalen Thema, bei der die Digitalisierung und Datendurchgängigkeit schnell für mehr Effizienz und Nachhaltigkeit sorgen könnte: Weg mit der Flut an Papierdokumentationen für jedes Produkt!
Seitz:
Das ist ein sehr guter Punkt! Wenn Sie zu einem Steuerungs- und Schaltanlagenbauer gehen, erleben Sie auch heute: Sein größter Container ist gefüllt mit zu entsorgendem Papier und Kartonagen. Von vielen gelieferten Komponenten wird die mitgelieferte Anleitung, Beilegzettel und Verpackungsmaterial direkt entsorgt. Das ist ein riesiger Haufen, der einfach in die Tonne kommt. Der Endkunde bekommt diese Unterlagen eh nie zu Gesicht. Pro Schaltschrank müsste allein deshalb schon zusätzlich ein Baum gepflanzt werden, nur wegen der Dokumentation. Es wäre ein Leichtes, das komplett zu vermeiden. Wir haben ja beispielsweise mit Rittal ePocket eine Lösung, die Dokumente aller Komponenten eines Schaltschranks digital zentral zu hinterlegen. Wo sich schon wieder der Kreis zur Datendurchgängigkeit unserer SEAP-Initiative schließt. Also realisierbar wäre es sofort, es hapert nur noch an der Umsetzung in der Praxis, vor allem durch die gesetzlich vorgegebenen Rahmenbedingungen.
Scharf:
Und das ist hier genau die Krux. Wir sind ja gesetzlich verpflichtet, jeder ausgelieferten Komponente die Dokumentation als Papier in den 24 Amtssprachen der EU mitzuliefern. Und was passiert damit? Wie es Sebastian Seitz schon sagt: Alles kommt in die Tonne. Wir müssen weg kommen von dieser Verschwendung. Ein Hindernis sind dabei rechtliche Dokumentationspflichten rund um die Produkthaftung. Wir haben jetzt bei unseren neuen Kühlgeräten die Dokumentation auf Papier so weit reduziert, wie es rechtlich möglich ist. Aber es ist offen gesagt immer noch zuviel!
Dr. Possel-Dölken:
Ja das ist ein wirklich großes Ärgernis. Wir haben in den letzten zwei Jahren den Bedarf und die rechtlichen Anforderungen analysiert und daraufhin die beigepackten Informationen deutlich reduzieren können. Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Industrieunternehmen und den Gesetzgebern, den Ersatz von unnützem Papier durch digitale Formate technisch und rechtlich zu ermöglichen.
Seitz:
Deshalb ist die Diskussion über diese Thematik auch sehr wichtig, damit auch in der Öffentlichkeit ein Bild über diese unnütze Verschwendung entsteht und der Druck auf die Gesetzgebung steigt, hier etwas zu ändern.
Kommen wir zu einer resümierenden Abschlussfrage: Der Schaltschrank- und Anlagenbauer, warum sollte er sich an Ihre Unternehmen wenden, wenn es um zukunftsfähige und nachhaltige Lösungen geht?
Dr. Possel-Dölken:
Unser Leistungsversprechen ist sehr umfassend. Wir sind in der Lage, aus vielen Blickwinkeln auf den Schaltanlagenbau zu schauen und zu unterstützen – jenseits des klassischen Phoenix Contact Portfolios bieten wir Schaltanlagenbauern zum Beispiel eine praxisorientierte Begleitung bei der Umsetzung von Lean Production in ihrer eigenen Fertigung an. Wir haben unsere Lösungen in der eigenen Produktion im Einsatz und wissen daher, wo Fallstricke warten und was Kunden wirklich benötigen. Und hier spielt auch unsere exzellente Zusammenarbeit mit Partnern wie Rittal und Eplan über die SEAP-Initiative eine große Rolle, weil wir für den Schaltschrank- und Anlagenbauer ganzheitliche Lösungen schaffen. Außerdem sind wir keine Theoretiker, die nur Komponenten liefern und dann den Kunden allein lassen. Das macht den Unterschied. Hinzu kommt, dass wir mit unseren Nachhaltigkeitslösungen, egal ob im Schaltschrank oder Gebäudemanagement, auch hier den Weg Richtung CO2-Reduzierung ebnen können.
Scharf:
Früher hat man gesagt, was man nicht messen kann, kann man nicht regeln. Heute sage ich, was ich nicht vernünftig engineered und geplant habe, kann ich später nicht optimieren. Hier geben wir dem kompletten Schaltschrank- und Anlagenbau die Botschaft und Lösungen, ganz früh im Prozess Transparenz und eine Datendurchgängigkeit zu schaffen. Denn nur wenn von Anfang an ein Digitaler Zwilling vorhanden ist, kann ich später im Betrieb und beim Kunden sehr einfach optimieren. Zum Beispiel sprechen wir von der Reduzierung des Carbon Footprint, von der Überwachung der thermischen Auslastung, von der Generierung neuer Geschäftsmodelle wie präventiver Instandhaltung und vieles mehr. Wir bieten mit Eplan und Partnern wie Phoenix Contact die passenden Lösungen für Kunden jeder Größe. Rittal ermöglicht so eine durchgehende Wertschöpfungskette, mit der Steuerungs- und Schaltanlagenbauer auch in Zukunft ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht nur sichern, sondern ausbauen können.
Seitz:
Uwe Scharf hat es auf den Punkt gebracht. Ohne ein vollständiges, digitales Modell lassen sich keine Effizienzpotenziale heben. Wir schaffen mit unseren Engineering-Lösungen genau die Grundlage, um von Anfang an für die Transparenz und eine standardisierte Datendurchgängigkeit zu sorgen. Und dabei meine ich wirklich beginnend von der Spezifikation, der Verfügbarkeit standardisierter Gerätedaten über das komplette Engineering bis hinein in die Produktion – und wieder zurück! Kunden können sich durch SEAP auch sicher sein, auf offene und standardisierte Lösungen zu setzen.