Sie wechselten zum 1.1.21 mitten in der Pandemie als neuer CEO zu Wago. Haben Sie seitdem überhaupt eine Chance auf ein „richtiges“ Kennenlernen Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehabt?
Natürlich stellte ich mir zu Beginn die Frage, ob ich nach Minden in die Unternehmenszentrale fahren soll und dort dann völlig isoliert sitze. Wie soll ich das Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenlernen, und wer will mich überhaupt direkt sehen, denn es herrschten ja völlig zu Recht die absolut wichtigen Kontaktbeschränkungen... Doch das war für mich dann die Überraschung, denn genau das Gegenteil ist eingetreten. Durch die virtuellen Begegnungsmöglichkeiten habe ich so viele Menschen über das letzte dreiviertel Jahr kennengelernt, das wäre mir unter „normalen“ Umständen überhaupt nicht möglich gewesen. Ohne Reisen, ohne endlose Meetings in Büroräumen habe ich alle weltweiten Ländergesellschaften kennengelernt. Wir haben mit den Mitarbeitern hier in Deutschland zweimal pro Woche virtuelle Lunch-Meetings mit je 15 Teilnehmern gemacht. So habe ich auch im Stammsitz eine große Belegschaft sprechen können. Und der Vorteil ist, durch die neuen virtuellen Technologien habe nicht nur ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennengelernt, sondern sie auch mich, es entstanden viel mehr Dialoge. Die Erreichbarkeit über Videocalls mit schneller und einfacher Terminkoordination sehe ich also durchaus auch als positive Errungenschaft. Wir alle wünschen uns wieder sehnlichst Normalität herbei, aber man muss die positiven Effekte auch als Chance nutzen.
Wenn Sie das bisherige Jahr bei Wago Revue passieren lassen: Was hat Sie positiv überrascht?
Ich würde es so sagen: Was hat mich positiv noch mal bestärkt? Ich habe vieles gesehen, was ich im Vorfeld erwartet habe, nämlich ein sehr gesundes Unternehmen, eine starke Marke und top engagierte Mitarbeiter. Überrascht war ich aber dann doch von den vielen attraktiven und begeisternden Produkte, von denen manche sogar eine Fanbase haben. Fast wie bei einem Fußballclub. Diese Begeisterung hat mich wirklich überrascht.
Produktinnovation zählt zu einer Stärke von Ihnen. Wo sehen Sie bei Wago das meiste Potenzial für Innovationen?
Unsere Herkunft, unsere DNA ist die Federklemme. Dort sind wir mit hohem Engagement, Pioniergeist und Gründerwillen gestartet. Und ich muss sagen, das erlebe ich heute noch täglich im Unternehmen. Deswegen fühle ich mich auch sehr wohl in dieser innovativen Umgebung, weil wir ständig überlegen, wie wir die Klemmen noch ein Stück besser für unsere Kunden machen können. Das beginnt bei einem neuen Hebel, der die Verbindung noch einfacher macht, bis hin zu Gedanken, welche Informationen kann die Klemme zusätzlich noch liefern. Insbesondere das Thema, mehr Daten und somit mehr Wissen zu generieren, ist eine klare Innovationsrichtung von uns. In der Automatisierungstechnik sehe ich ebenfalls viel Potenzial für Innovationen. Noch ist dieser Geschäftsbereich in unseren Umsatzsäulen klein, aber er besitzt das größte Wachstumspotenzial. Bei unseren Automatisierungslösungen denken wir klar in Richtung offene Ökosysteme. Wir wollen hier Innovationen vorantreiben, die möglichst viele Partnerschaften ermöglichen, weg von proprietären Systemen. Die Zukunft liegt meiner Überzeugung nach in starken Kooperationen und in Co-Creation. Kein Unternehmen kann heute noch alle Anforderungen und Herausforderungen der Kunden allein lösen. Diese benötigen durch die zunehmende Komplexität auch eine Vielzahl an individuellen Speziallösungen, wo mehrere exzellente Partner zusammenarbeiten müssen.
Partnerschaften und Kooperation sorgen für schnellere Time-to-Market und ganzheitliche Lösungen, verwässern aber auch die Gene und USPs eines Unternehmens. Wo öffnen Sie sich, welche Kernkompetenzen schärfen Sie, wo bauen Sie Know-how auf?
Wenn ich auf unsere DNA und Kerninnovation zurückkomme, die Federklemme, dann wollen wir hier keine Partnerschaft. Denn wie Sie es auch in der Frage formuliert haben, das würde die Gene und USPs verwässern. Klemmen werden wir also mit unserem Kern-Know-how immer weiterentwickeln, mit zusätzlichen Funktionalitäten anreichern – Stichwort Sensorik – und weitere Datenpunkte damit generieren. Wenn wir aber in die Gebäudeautomation, Energiemanagement und Fabrikautomation einen Blick werfen, dann sind dort gerade im Zeitalter von Industrie 4.0 viele unterschiedliche Qualitäten und Fertigkeiten gefragt. Wir als Wago liefern hier einen sehr guten Ausschnitt, wenn es darum geht, Datenpunkte zu vernetzen. Aber wir brauchen darüber hinaus natürlich viele andere Unternehmen, die dann Aktoren, Antriebsregelungen und vieles mehr beisteuern. Wir wollen die Schnittstellen klar bedienen und für unsere Kunden eine technische Interoperabilität sicherstellen. Das ist ein begeisterndes Feld für Kooperationen. Und gerade bei Partnerschaften favorisiere ich eine agile Zusammenarbeit – nicht mehr wie früher, wo zwei Unternehmen einen Vertrag machen, dann wird darüber berichtet, dass es auch jeder weiß. Je nach Projekt und Anforderungen müssen heutzutage oft unterschiedliche Unternehmen zusammenarbeiten. Und dadurch, dass sich technische Grenzen immer mehr abbauen, ist das immer besser möglich – dafür setzen wir uns bei Wago ein.
Über die letzten rund 70 Jahre war Wago lange Zeit für seine Verbindungstechnik bekannt – und jetzt? Verkaufen Sie also Lösungen, damit Ihre Anwender verstehen, wie es der Maschine, Anlage oder dem Gebäude geht?
Wir möchten in Zukunft noch mehr System- und Lösungsanbieter werden, das sehen Sie richtig. Zwar sind Komponenten und Einzelprodukte nach wie vor unsere stärksten Umsatzträger, aber wir bauen den Lösungsbereich mit einem klaren Fokus darauf massiv aus. Unsere Kunden geben uns immer wieder das Feedback, dass sie von Wago mehr also nur die Klemme erwarten – und sie trauen uns das auch klar zu. Wir überlegen uns also gerade, wie wir diesem Marktanspruch gerecht werden können. Wie kann Wago beispielsweise zu einem Lösungsanbieter für ein Nutzgebäude werden, um dort die Steuerung von Licht, Klima, Beschattung, Solar & Co. zu managen. Wir wollen Kunden also künftig Lösungspakete anbieten. Und hier dürfen natürlich auch wieder Partner integriert sein, nur der Kunde will einen Ansprechpartner, und den bekommt er dann mit Wago.
Das klingt auch nach viel Veränderung im Unternehmen. Sie kamen zu Wago mit dem Anspruch, neue Wege zu gehen, aber gleichzeitig die Werte des Familienunternehmens zu bewahren. Das klingt wie eine schöne Floskel, aber was verstehen Sie darunter?
Ja das ist ein Spagat (lacht). Wir haben eine sehr starke Familientradition und Wertevorstellungen – das sage ich im positiven Sinne. Wago ist ein sehr kontinuierliches Unternehmen, die Bindung und Loyalität unserer Mitarbeiter ist extrem hoch. Auch haben wir sehr viele langjährige Kunden, die sich mit unseren Wertevorstellungen ebenfalls identifizieren. Hierzu passt auch, dass wir ein unabhängiges Unternehmen mit hundertprozentiger Familienbeteiligung sind – und das wird ganz klar auch so bleiben. Dennoch wollen wir uns in Zukunft für neue Wege öffnen. Das können Partnerschaften sein, um von externem Know-how zu profitieren, oder auch Beteiligungen sowie Akquisitionen. Mir geht es aber auch um eine interne Erneuerung, denn wir müssen mehr Unternehmertum wagen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen zu kleinen Unternehmern werden. Interne Kräfte wollen wir mit Ideen, Innovationen und kreativen Ansätzen frei werden lassen. Wir müssen uns also in vielen Bereichen selbst neu erfinden. Hierzu haben wir auch schon einige Programme ins Leben gerufen. Beim jüngsten Programm Wago Creators lassen wir auch unsere Kunden an der Innovationsgeschichte teilhaben, indem sie selbst zum Produkterfinder werden. Wir müssen also Neues wagen, neue Dinge einfach auch mal ausprobieren.
Originelle Mitarbeiter mit verrückten Ideen, die auch mal herumspinnen, treiben oft auch Innovationen. Fördern Sie also Mut und sind bereit Risiken einzugehen, auch mal Rückschläge zu erleiden?
Absolut! Ich scheitere auch an vielen Ecken jeden Tag, und andere Dinge funktionieren. Und in der Regel lernt man ja aus den Rückschlägen. Warum haben sie nicht funktioniert? Was habe ich dabei nicht bedacht? Die Idee war vielleicht gut, aber war der Zeitpunkt falsch? Und genau diese Denke wollen wir aus unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern „herauskitzeln“. Und wir laden eben auch unsere Kunden zu dieser offenen Innovation ein. Ich sage also ganz klar, scheitern gehört dazu, ohne Scheitern passiert keine Innovation. Und mit dieser Philosophie gelangen wir zu einem ganz anderen Punkt der Freude an der Arbeit und erhalten eine völlig andere Dynamik im Unternehmen. Die Impulse kommen viel rascher, die Lebendigkeit steigt. Genau das macht für mich ein modernes Unternehmen aus.
Müssen sich viele traditionelle deutsche Industrieunternehmen also auch von der Vorstellung verabschieden, so wie früher alles selbst machen zu können?
Auf jeden Fall! Zwar haben wir immer noch eine sehr große Fertigungstiefe, wenn es um unser Kern-Knowhow geht. Das werden wir auch weiter schützen. Aber wir stellen uns heute bei jeder neuen Produktidee die Fragen: Können wir das selbst produzieren? Müssen wir das selbst machen? Oder kann das jemand anders besser? Und wir kommen dann auch bei einigen Ideen zu dem Schluss, andere können das besser. Und jetzt kommt für mich wieder unser Wandel im Unternehmen zum Tragen. Denn heute sagen wir, vielleicht verkaufen wir die Idee oder wir suchen einen Partner, der für uns das Produkt fertigt. Das sind für mich völlig legitime neue und gewinnbringende Wege.
Aber dennoch investiert Wago weiter auch in eigene Fertigungskapazitäten… Welche Strategie forcieren Sie mit den Erkenntnissen der letzten Zeit – Stichwort Pandemie, Handelsunsicherheiten und Aufrechterhaltung von Lieferketten?
Deutschland ist unser wichtigster Fertigungsstandort. Und das ist auch ein Wertversprechen an das Land und an unsere Herkunft. Wir haben uns immer daran gemessen, international wettbewerbsfähig zu sein. Solang wir das mit deutscher Produktion schaffen, investieren wir auch weiter in unseren heimischen Standort. Dennoch haben wir gesehen, dass wir international noch deutlich besser agieren und wachsen können. Und das inkludiert natürlich eine Lokalisierung. In den großen Märkten wie Nordamerika und Asien ist es einfach unabdingbar, dass wir dort weiter unseren Footprint ausbauen und in lokale Standorte investieren. Die Pandemie hat auch wieder gezeigt, wie abhängig ein Unternehmen ohne internationales Netzwerk wird, wenn ein Land plötzlich in einen Lockdown fällt. Das kann bis zum Abreißen der Lieferketten führen. Darum ist es extrem wichtig, die Produktion zwischen internationalen Standorten ausbalancieren zu können. Internationalisierung steht für uns bei Wago deshalb als strategisches Thema für die Zukunft weit oben auf der Agenda, denn wir wollen uns hier besser und unabhängiger aufstellen.
Und welche Ziele stehen auf Ihrer persönlichen Agenda für die nächsten Jahre bei Wago?
Meine persönlichen Ziele sind relativ einfach: Wachstum und Profitabilität in Einklang bringen, damit wir zusätzlich Marktanteile gewinnen. Dabei müssen wir als Familienunternehmen unsere Unabhängigkeit bewahren. Diese Punkte sind mir persönlich sehr wichtig. Ich möchte das Unternehmen auch so prägen, dass hoher Unternehmergeist, Erfindungsreichtum und Innovationsgeist gelebt werden. Gleichzeitig sollen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Bereitschaft zur Veränderung als Chance und nicht als Gefahr sehen. Ich betrachte Wago als mein Unternehmen, auch wenn es mir nicht gehört. Und genauso führe ich es auch.