Auf den ersten Blick sieht die mobile Arbeitsmaschine LH 150 EC High Rise aus wie ein üblicher Raupenbagger – nur etwas höher vielleicht. Aus nächster Nähe erst offenbaren sich die Unterschiede: Dieses Gerät ist so hoch, dass der Baggerfahrer ins Dachfenster eines typischen Reihenhauses schauen, mit dem Ausleger über den Giebel hinweggreifen und mit nur einer Schaufelladung den halben Garten abgraben könnte.
Der gelbe Riese ist kein Bagger, sondern zählt zu den sogenannten Materialumschlagmaschinen für den Umschlag von Materialien und Gütern. Diese ist modern, leistungsfähig und robust. Sie ist mit dem Energierückgewinnungs-System ERC ausgestattet. Das stellt dem Gerät zusätzliche Leistung zur Verfügung – mit dem Resultat einer deutlichen Kraftstoffeinsparung bei gleichzeitiger Leistungssteigerung. Eine weitere Besonderheit ist das Mehrkreis-Hydrauliksystem Positive Control. Angesteuert von der Liebherr-Elektronik und der Systemsoftware erlaubt es schnelle sowie flüssige Arbeitsspiele und eine effiziente Energieausnutzung. Der modulare Aufbau bei Grundmaschine und Ausrüstung bietet optimale Lösungen für jegliche Einsatzfälle. Es können verschiedene Unterwagenvarianten, Antriebskonzepte, Kabinenerhöhungen und Ausrüstungskonfigurationen gewählt werden.
Tobias Riedmiller, bei Liebherr für die Entwicklung der neuen Generation mitverantwortlich, erklärt: „Mit der Neuentwicklung unserer Maschine reagieren wir auf die wachsende Bedeutung des weltweiten Massengutumschlags. In den See- und Binnenhäfen sowie der Schrott-, Holz- oder Stahlverarbeitung wird zunehmend Wert auf niedrige Lärm- und Abgasemissionen gelegt. Außerdem ist dort die Infrastruktur ohnehin auf Elektrik statt Diesel ausgerichtet. Deshalb haben wir auf der Basis des Vorgängermodells LH 120 eine komplett neue Plattform für den Elektroantrieb entworfen.“ Weitere Vorteile des Elektroantriebs sind zudem ein deutlich niedrigerer Wartungsaufwand und damit eine höhere Produktivität.
Stromkreislauf sicherstellen
Damit der Gigant seine 536 elektrischen Pferdestärken auf den Ausleger bringt, um damit bis zu 1000 Tonnen Material pro Stunde in einem Schwenkradius von über 30 Metern zu bewegen, wird er mit 20 000 V Mittelspannung versorgt. Diese muss in eine für die Elektromotoren passende Spannung transformiert werden, was von einem mächtigen Transformator und einem Frequenzumrichter an Bord des Baggers übernommen wird. Von dort aus fließt der Strom direkt in den Maschinenraum. Daniel Bayer, verantwortlich für die Entwicklung des elektrischen Antriebssystems bei Liebherr, vergleicht die Kabelverbindungen mit der Herzarterie: „Um das Infarktrisiko auf null senken zu können, benötigten wir ein Kabel, das den besonderen Belastungen standhält und den hohen Qualitätsanforderungen entspricht.“
Die Umgebungsbedingungen solcher Leitungen sind rau: Sehr enge Biegeradien, hohe UV-Einstrahlung, starke Vibrationen und der Kontakt zu aggressiven Medien wie Hydrauliköl verlangen der Kabelummantelung und den Anschlüssen einiges ab. „Wir produzieren für den Weltmarkt. Da muss der Bagger darauf ausgelegt sein, seine Arbeit im finnischen Winter bei minus 30 Grad genauso zuverlässig zu verrichten wie in der glühenden Hitze von Dubai. Die Verkabelung muss somit auch unter solch extremen Temperaturbereich standhalten“, erklärt Bayer.
Vibrationen bewältigen
Mit diesem Anforderungskatalog klopfte Daniel Bayer im Juli 2012 bei Helukabel an. Schnell konnte aus dem Programm ein Kabel identifiziert werden, das den technischen Anforderungen entsprechen könnte: Heluwind ist ein Kabel mit 400 Quadratmillimetern Durchmesser und wurde ursprünglich für Windkraftanlagen entwickelt. Dort wird es im Kabelloop eingesetzt. Die mechanischen Eigenschaften bildeten eine gute Ausgangsbasis für die Aufgaben der Materialumschlagmaschine.
Das Kabel erfüllt eine Reihe von Voraussetzungen: Temperaturbeständigkeit in der geforderten extremen Spreizung, UV-Beständigkeit sowie die konstruktionsbedingt erforderlichen Biegeradien. Anders als im Einsatz in Windkraftanlagen ist das Kabel in der Liebherr-Anwendung keinen Torsionen, dafür aber wesentlich stärkeren Vibrationen ausgesetzt. Doch würde sich dieses Spezialkabel auch als geschirmte Motoranschlussleitung und für den Anschluss des Frequenzumrichters eignen? „Um das herauszufinden, haben wir das Kabel Tests und Prüfverfahren unterzogen“, berichtet Joachim Koch, Abteilung Spezialkabel bei Helukabel, und Liebherr-Entwickler Daniel Bayer ergänzt: „Die mechanischen Belastungen, vor allem die Beständigkeit gegen Öle, Schmierstoffe oder Kühlmittel, waren die Knackpunkte. Denn für die Motorverkabelung möchten wir Wartungsfreiheit über die gesamte Lebensdauer der Umschlagmaschine sicherstellen.“
Killermedien abgewehrt
Also waren zunächst einige Tests nötig: Bereits im November 2012 erfolgte die Bemusterung mit den Proben inklusive Sicherheitsdatenblättern für die Medientests. „Für unsere Prüfverfahren lieferte uns Liebherr synthetische und aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellte biologische Öle, die auf Kunststoffe deutlich aggressiver wirken als herkömmliche Öle auf mineralischer Basis“, sagt Joachim Koch. Die Prüfung erfolgte nach VDE: Die Kabel wurden den Medien bei einer Temperatur von 90 Grad Celsius sieben Tage lang ausgesetzt. Danach ermittelten die Prüfer die verbleibende Zugfestigkeit und Reißdehnung. Neben den Kabeln lag das Augenmerk auch auf den Kabelschellen für die Fixierung, damit die Kabel im harten Arbeitsalltag auch allen mechanischen Belastungen standhalten. „In unserem Testcenter haben wir dafür extra eine Rüttelplatte entwickelt, welche die auftretenden Belastungen auf der Großmaschine realitätsnah simuliert“, so Koch. Dort bewies die Befestigung in aufwendigen Tests ihre Einsatzreife.