Herr Dr. Grathwohl, welche positiven Effekte ergeben sich generell durch den digitalen Wandel in der Lebensmittelindustrie?
Die Branche im Speziellen sieht denselben Chancen entgegen wie auch die Prozessindustrie allgemein: Digitalisierung ermöglicht eine höhere Transparenz in den Prozessen, sodass deren Effektivität gemessen und optimiert werden kann. In Bezug auf Lebensmittelverpackungs- und –verarbeitungsmaschinen zielt dieser Ansatz insbesondere auf die Erhöhung der Maschinenverfügbarkeit sowie die Reduktion ungeplanter Maschinenstillstände ab. Darüber hinaus lassen sich heute verfügbare Technologien dazu einsetzen, die Lebensmittel- und damit die Verbrauchersicherheit zu steigern. Der digitale Wandel ermöglicht ein abgestimmtes Handeln entlang der gesamten Prozesskette – und eröffnet unter Umständen eine neue Geschäftsperspektive, etwa in Form alternativer Vertriebsmöglichkeiten durch die Implementierung von entsprechenden Plattform-Modellen. Um diese erfolgreich betreiben zu können, müssen Produktions- und Verpackungsprozesse jedoch deutlich flexibler gestaltet werden.
Auch die Anforderungen der Verbraucher steigen …
In der Tat. Der Markt ist heute maßgeblich beeinflusst durch eine hohe Variantenvielfalt, die Individualisierung von Produkten und insbesondere durch eine zunehmende Sensibilisierung der Verbraucher hinsichtlich Qualität, Nachhaltigkeit, Kommunikation und vor allem auch Transparenz. Dieser Trend wird sich meines Erachtens verstärken – was Unternehmen nicht nur als Herausforderung, sondern als echte Chance verstehen können. Eine Optimierung der unternehmenseigenen „Informationspolitik“ zum Beispiel stärkt das Image, dient der Vertrauensbildung, bedeutet im besten Falle sogar einen Wettbewerbsvorteil. Insgesamt betrachtet können die Anforderungen, die aufgrund der Optimierung interner Prozesse wie auch auf Druck von außen entstehen, durch entsprechende digitale Modelle durchaus erfüllt werden.
Die deutsche Ernährungsindustrie setzt sich hauptsächlich aus KMUs zusammen. Von welchen Digitalisierungsansätzen können auch diese Unternehmen profitieren?
Multivac entwickelt insbesondere für diese Zielgruppe digitale Produkte, um den Einstieg in die Digitalisierung zu erleichtern. Die Nutzung der Multivac-Smart-Services bedarf dabei keiner großen Anfangsinvestition, denn das modular aufgebaute Portfolio an digitalen Helfern erlaubt die flexible Anpassung an die jeweilige Maschine und die entsprechenden Linienkomponenten. Die maschinenübergreifende Vernetzung ist übrigens ein wichtiger Punkt, denn viele Unternehmen im Markt denken mehr in Linien und weniger in einzelnen Maschinen. Dies hat uns unter anderem auch zu übergreifenden Kooperationen mit anderen Herstellern angeregt, etwa im Rahmen der Open Industry 4.0 Alliance. Denn wir möchten sicherstellen, dass Multivac-Maschinen kompatibel in Produktionsumgebungen unserer Kunden vernetzt sind und die gesamte Produktionsumgebung ganzheitlich betrachtet wird.
Befassen sich Unternehmen aus Ihrer Sicht aktuell mit den notwendigen Maßnahmen, um mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten?
Es wird derzeit viel über Digitalisierung gesprochen. Jedoch sind die Anforderungen stets individuell und das Angebot an digitalen Lösungsansätzen sehr unübersichtlich. Daraus resultiert im ersten Schritt eine explorative Phase der Marktorientierung, in der Informationen gesammelt und gegebenenfalls auch erste digitale Lösungen ausprobiert werden. Meiner Erfahrung nach fällt es Unternehmen in dieser dynamischen Entwicklungsphase jedoch schwer, sich jetzt schon für Lösungen zu entscheiden, die langfristig Bestand haben sollen. Deshalb werden auch höhere Investitionen in digitale Lösungen erst sukzessive in den kommenden Jahren getätigt. Für Anbieter digitaler Lösungen ist es daher enorm wichtig, jetzt offene Schnittstellen der eigenen Produkte vorzusehen, die den Kunden die Sicherheit geben, dass sie auf keine Insellösung gesetzt haben.
Welche Bereiche im Unternehmen betrifft Digitalisierung beziehungsweise Industrie 4.0 überhaupt und welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden?
Grundsätzlich können nahezu alle Bereiche eines Unternehmens von Digitalisierung profitieren. Der heute stark strapazierte Begriff Industrie 4.0 zielt aber natürlich in erster Linie auf das Produktionsumfeld ab – hier sind üblicherweise ja auch Multivac-Maschinen angesiedelt. Möchten Kunden also Industrie 4.0 gestalten, ist eine wesentliche Voraussetzung die Versorgung mit Internet via LAN und WLAN. Darüber hinaus ist die Abstimmung zwischen unseren Technikern und der IT des Kunden oftmals eine Herausforderung, da der Einsatz entsprechender Technologien neu ist und auch Sicherheitsbedenken existieren. Dieser Zwiespalt muss moderiert und aufgeklärt werden, was durchaus zeitintensiv ist.
Skizzieren Sie kurz, wie Multivac selbst die Transformation zu einem digitalen Unternehmen, zu digitalisierten Maschinen und digitalen Prozessen geschafft hat?
Multivac beschäftigt sich seit etwa drei Jahren intensiv mit dem Thema. Neben der Digitalisierung unserer Maschinen – der neuen X-line-Generation – und der Erweiterung des Produktportfolios um digitale Produkte wie den Multivac Smart Services und insbesondere dem Multivac Pack Pilot haben wir auch bei der Digitalisierung der Prozesse in unserem Hause wegweisende Fortschritte gemacht. Daneben erkennen wir aber auch an, dass Digitalisierung ein Prozess der Veränderung ist. Wir glauben, dass uns Veränderung besonders gut gelingen kann, wenn wir unsere Mitarbeiter bei dieser Veränderung aktiv teilhaben lassen und sie selbst aktiv mitgestalten können. Aus diesem Grund haben wir auch interne Change-Projekte wie unser Digital-Architects-Programm aufgesetzt, die mit großem Engagement und Einsatz unserer Mitarbeiter goutiert werden.
Sie erwähnten gerade die X-line. Mit welchen Features ist die neue Generation an Tiefziehverpackungsmaschinen und Traysealern für die neue Ära gerüstet?
Die X-line bietet umfassende, innovative Features und ist mit einem hohen Grad an Sensorik ausgestattet. Dies trägt maßgeblich zu einer besseren Prozesssicherheit und Packungsqualität wie auch zu einem höheren Ausstoß bei. Durch ihre Vernetzbarkeit sind die Maschinen optimal für die zukünftigen Anforderungen unserer Kunden hinsichtlich der Digitalisierung ihrer Prozesse gerüstet und bereits für die Nutzung unserer umfassenden Smart Services vorbereitet. Die Ausstattung mit dem Cloud-basierten Einstellungsassistenten Pack Pilot trägt dabei im Wesentlichen zu einer deutlichen Reduzierung der Rüstzeiten sowie zum Betrieb der Maschinen am weitestgehend optimalen Betriebspunkt bei. Alle X-line-Modelle können bereits ab Werk mit der für Industrie 4.0 erforderlichen Hard- und Software sowie der Standard-Schnittstelle OPC-UA ausgestattet werden.
Letztlich werden Maschinen immer noch von Menschen bedient – eine der Neuerungen der neuen Maschinengeneration ist das neue HMI 3. Wie stellt diese neue Bedienoberfläche die Kopplung zwischen Mensch und digitalisierter Maschine sicher?
Mit dem HMI 3 ist es den Entwicklern aus unserer Steuerungstechnik gelungen, Funktionalitäten aus Smartphones und Tablets für industrielle Belange zu adaptieren, an die sich Menschen im Privatleben längst gewöhnt haben. Multi-Touch und Gestensteuerung zählen dazu genauso wie eine kachelbasierte Führung durch flach kaskadierte und übersichtliche Menüs. Unsere Maschinen lassen sich daher nicht nur leichter bedienen, auch das Erlebnis des Maschinenbedieners und die Akzeptanz zum Bedienen wird deutlich gesteigert.
Nachhaltigkeit ist ebenfalls ein Kernthema in der Lebensmittelindustrie. Kann der hohe Digitalisierungsgrad von Maschinen Ihrer Meinung nach Möglichkeiten zu Ressourcenschonung eröffnen?
Zahlreiche digitale Lösungen fokussieren explizit auf Nachhaltigkeitsaspekte. Im industriellen Kontext leistet Multivac beispielsweise mit dem Multivac Pack Pilot einen Beitrag. Indem die optimale Maschineneinstellung automatisiert berechnet wird und Kunden nicht mehr im „Trial and Error“-Verfahren die richtigen Form- und Siegeleinstellungen erzielen, werden über die Zeit auch größere Mengen an Folie eingespart, die sonst im Rahmen der Einstellungsoptimierung angefallen wären. Daneben kann der Pack Pilot auch bei der Ermittlung optimaler Gasmischungswerte unterstützen, sodass die Haltbarkeit von Lebensmitteln unter Berücksichtigung des jeweiligen Produkts maximiert wird. Ganz allgemein gesehen helfen digitale Lösungen auch dabei, das Bewusstsein für den Verbrauch unterschiedlicher Medien wie Wasser, Druckluft, Strom oder Gas zu schärfen, indem sie Verbrauchswerte von Maschinen messbar und sichtbar machen.
Ein großes Thema hinsichtlich Internet of Things im industriellen Bereich ist Predictive Maintenance …
Vorausschauende Wartung ist ein ebenso populäres wie komplexes Thema. Seit wir unsere Projekte im Industrial-IoT-Kontext gestartet haben, kommunizieren wir transparent zu unseren Kunden, dass wir Predictive Maintenance als einen Nordstern verstehen. Die Vision der gänzlich vorausschauend wartbaren Maschine leitet uns auf dem Weg der Digitalisierung, wobei wir hier Schritt für Schritt vorgehen werden: Kritische Maschinenkomponenten wie beispielsweise Schneidungen, Hubwerke, Ketten, Antriebe oder Pumpen möchten wir immer weiter digital überwachen und mehr über die Zusammenhänge von Sensorwerten und physischen Zuständen lernen. Hierfür sind sowohl entsprechend große Mengen an Daten als auch fachliche Kompetenzen notwendig, die wir teilweise auch zusammen mit unseren Lieferanten in die Entwicklung der Kundenlösung einbringen werden. Damit ermöglichen wir unseren Kunden, die Planbarkeit von Wartungseinsätzen mittelfristig zu erhöhen und ungeplante Stillstände langfristig ganz zu vermeiden. Als Beispiel für eine solche Anwendung ist unsere neue Stanze FS15 zu nennen, die wir im Zusammenhang mit unserer RX 4.0 entwickelt haben. Da wir hier bereits den Verfahrweg der Stanze messen können, ist auch der Schneidungsabrieb und damit der Verschleiß messbar, sodass der optimale Zeitpunkt für den Austausch der Schneidung vorausgesagt werden kann.
Wie sehen Sie die Bereitschaft Ihrer Kunden, Daten aus ihren Produktionslinien in die Cloud hochzuladen?
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Bereitschaft unserer Kunden, Cloud-basierte Smart Services zu nutzen, stark variiert. Wir stellen insbesondere Unterschiede zwischen den Branchen und den Unternehmensgrößen fest. Während Kunden aus der Medizinbranche Cloud-basierten Produkten noch sehr kritisch gegenüberstehen und die dortigen Produktionsprozesse aufgrund von gesetzlichen Regularien vergleichsweise starr organisiert sind, ist die Bereitschaft, Cloud-basierte Dienste zu nutzen, in der Lebensmittelbranche meines Erachtens größer. Weiterhin sind kleine und mittlere Unternehmen tendenziell offener in Bezug auf digitale Lösungen, da die internen Abstimmungen weniger komplex und die organisatorischen Verantwortlichkeiten oft klarer geregelt sind.
Und welche Sicherheiten dürfen Ihre Kunden bei Multivac erwarten?
Bei Multivac wissen wir um die besonderen Sicherheitsanforderungen unserer Kunden an unsere digitalen Lösungen und beachten diese bereits bei der Entwicklung unserer Produkte. So haben wir uns beispielsweise frühzeitig dazu entschlossen, eine funktionale Trennung von IoT-Anwendungen und der eigentlichen Maschinenfunktion durchzuführen. Unsere Smart Services werden auf einer separaten Hardware und nicht auf der eigentlichen Maschinensteuerung betrieben, sodass sie den Betrieb der Maschine zu keiner Zeit gefährden können. Weiterhin sind alle Maschinen, für welche wir Smart Services anbieten, lediglich mit einer verschlüsselten ausgehenden Internetverbindung ausgestattet. Es kann also zu keiner Zeit Einfluss auf den Maschinenbetrieb genommen werden, da die Dienste nur Lese- und keine Schreibrechte zugewiesen bekommen. Schließlich liegt uns die Transparenz im Sinne der Datennutzung besonders am Herzen. Alle Smart Services unterliegen deshalb einer speziellen Datennutzungsvereinbarung, in welcher wir unter anderem die Daten und den Zweck der Erhebung für unsere Kunden erläutern. Interessierte Kunden sind außerdem jederzeit eingeladen, sich im Rahmen von Data-Audits selbst ein Bild von den gespeicherten Maschinendaten zu machen.