Wie weit ist nach Ihrer Meinung die deutsche Industrie in Bezug auf Digitalisierung?
Unsere Erfahrungen mit vielen Interessenten und Kunden sind sehr differenziert. Einige Branchen haben sich bereits viele Jahre mit dem Thema beschäftigt. Andere stehen hier noch direkt am Anfang. Dies ist aber auf gar keinen Fall ein Nachteil. Viele technische Sondierungen können so übersprungen werden, und Interessenten können direkt beim State-of-the-Art anfangen.
Welche Herausforderungen auf den Weg der Transformation beobachten Sie?
Das größte Problem ist, wie so oft, das Loslassen. Viele Unternehmen haben heute noch Bedenken beim Bereitstellen von Daten und Informationen – gerade bei der Cloud-Transformation wird das deutlich. Hier bedarf es seitens der Anbieter mehr Aufklärungsarbeit. Moderne Systeme sind unglaublich sicher. Gerade wenn die Daten in Deutschland oder Europa gespeichert werden, gelten hier aktuelle Rechtsprechungen für die Nutzung und auch die Absicherung der Daten. Dort besteht aus unserer Sicht kein Gebot mehr für Angst, aber natürlich Vorsicht bei der Anbieterwahl.
Aerzen hat sein Serviceportfolio um ein digitales Angebot erweitert. Was fällt in den Aufgabenbereich von Aerzen Digital Systems?
Aerzen Digital Systems ist der Digitalisierungsspezialist im Aerzen-Konzern. Als 100-prozentige Tochter der Aerzener Maschinenfabrik gegründet, fokussieren wir uns auf die Herausforderungen der Digitalisierung in unserem Marktfeld. Die Bedürfnisse unserer Kunden sind dabei ganz klar im Mittelpunkt. Die maßgeschneiderten, cloudbasierten, digitalen Services fußen auf praxisnahen Erkenntnissen aus der Zusammenarbeit mit unseren Kunden und auf der über 150-jährigen Erfahrung im Maschinenbau. Mit diesem Hintergrund entwickeln wir Lösungen für ein weltweites Maschinenpark-Management sowie zur Steigerung von Energieeffizienz, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Maschinen mittels Künstlicher Intelligenz.
Welche Vorteile bieten datenbasierte Lösungen für Betreiber von Kompressoren?
Wir haben durch eine datenbasierte Überwachung die Möglichkeit, kontinuierlich die Maschine zu überwachen – und nicht, wie im Vergleich zum routinierten Wartungsrundgang, zu einem Zeitpunkt. Durch datenbasierte Services wachsen Hersteller und Betreiber noch näher zusammen. Der Kunde hat die Möglichkeit, von unserem Expertenwissen aus über 150 Jahren Kompressorenbau zu partizipieren. Gleichzeitig können wir mittels Digitalisierung unser Know-how in eine Künstliche Intelligenz transplantieren. Das Ergebnis: ein unglaublicher Skalierungseffekt. Dies bedeutet eine 24/7-Analyse von der Qualität eines Serviceingenieurs zu deutlich geringeren Kosten. Hinzu kommt, dass durch die kontinuierliche Datenaufnahme die Maschinen dazulernen und sich die Analysen ständig verbessern.
Mit AERprogress stellen Sie eine Lösung zur Bereitstellung maßgeschneiderter digitaler Dienste für Kompressoren und Gebläse zur Verfügung. Was genau umfasst diese Lösung?
Unsere Lösungen sind sehr stark auf die jeweilige Kundenfragestellung abgestimmt. Wir bieten unterschiedliche digitale Services und Add-ons an. Basis der Lösung ist das Machine-Park-Management als Remote-Service-Lösung. Damit einher geht der weltweite Zugang auf die Aerzen Digital Platform. Ergänzend zu diesem Einstiegsprodukt können die Kunden die Add-ons Energy Management Improvement System oder Consumption Certification dazubuchen. Diese sind dafür ausgerichtet, nachhaltig den Stromverbrauch und die CO2-Emissionen zu reduzieren. Im Bereich des Condition Monitoring bieten wir die Add-ons Usage-Based Maintenance und Availability Management an. Hier können wir den Kunden deutlich geringere Stillstandszeiten, eine längere MTBF-Zeit sowie eine Verlängerung der Wartungsintervalle zur Steigerung seiner Gesamtanlageneffektivität (OEE) anbieten.
Inwiefern unterscheidet sich diese Lösung von der Konkurrenz, welche Alleinstellungsmerkmal weist AERprogress auf?
Aus meiner Sicht haben wir mit AERprogress aktuell ein Ökosystem geschaffen, was schwer zu vergleichen mit den Produkten anderer Marktbegleiter ist. Wichtig ist es, hier auch nicht AERprogress als alleinstehendes Produkt zu sehen. Hier steht die Symbiose aus drei essenziellen Bestandteilen im Vordergrund: zuverlässige, energieeffiziente Verdränger- und Strömungsmaschinen inklusive der passenden Maschinensteuerungstechnik, ein weltweites Servicenetzwerk von über 50 Service- und Vertriebsgesellschaften sowie die Ergänzung durch digitale Services für die optimale Lösung einer zuverlässigen und ressourcenschonenden Prozesslufterzeugung.
Datenschutz ist ein wichtiges Thema. Stoßen Sie hier auf viel Skepsis und wie gehen Sie damit um?
Ja, aber das ist überhaupt nicht schlimm. Man sollte und muss beim Thema Datenschutz skeptisch sein. Das darf nur nicht zum Protektionismus führen. Wir selbst sind auch Produzent und wissen, wie wichtig der sichere Umgang mit unseren Produktionsdaten ist. Daher haben wir von Aerzen Digital Systems eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen, damit die vom Kunden an uns entliehenen Daten maximal geschützt sind.
Für den Zugriff auf die Cloud setzen Sie auf die Aerzen Digital Platform. Welche Vorkehrungen haben Sie hier getroffen, um Ihren Kunden Sicherheit zu garantieren?
Die Anbindung erfolgt mittels mobilen Datennetzwerks (4G/LTE), sodass hier keine Verbindung zu dem sensiblen lokalen Netzwerk des Kunden besteht. Des Weiteren arbeiten wir mit einem Gateway, welches eine Firewall der aktuellen Generation besitzt. Ausgelegt ist unser gesamtes Sicherheitskonzept an die IEC62443, welches wir als Anbieter sowie unsere Zulieferer und Partner einhalten. Darin enthalten ist, dass unsere Daten verschlüsselt via TLS auf MQTT-Protokoll vorliegen. Dieses ist ein üblicher Standard für Machine-to-Machine-Kommunikation und ist bereits zu einer gängigen Größe geworden. Abgesichert wird die Datenverbindung über ein X.509-Zertifikat. Damit wird festgelegt, dass nur autorisierte Netzwerkteilnehmer, die zudem noch per Nutzername und Passwort autorisiert werden müssen, zulässig sind. Diese Technologie ist sicherer als jede handelsübliche Internetverbindung, welche wir permanent nutzen. Aber dieses Thema ist so wichtig und brisant. Darüber könnten wir noch ein eigenes Magazin machen ...
Das stimmt. Es gibt auch noch immer Unternehmen, die sich der Cloud verwehren. Ist Digitalisierung ohne die Nutzung einer Cloud überhaupt zu 100 Prozent umsetzbar?
Grundsätzlich ist Digitalisierung ein großer Begriff. Die Digitalisierung von Prozessen oder auch beispielsweise die Anwendung des papierlosen Büros ist natürlich auch ohne Cloud möglich. Wenn wir uns aber unsere digitalen Services anschauen, dann entstehen hier echte Mehrwerte erst durch die Kollaboration von einer Vielzahl von Daten in der Cloud. Das Instrument Cloud erlaubt uns, live auf die Maschine des Kunden zu schauen und Erkenntnisse sofort als Blaupause auf alle anderen Maschinen anzuwenden. Ich führe hier immer gern folgenden Vergleich an: Maschinenüberwachung ohne Cloud ist wie ein Navigationssystem ohne Aktualisierung. Irgendwann fährt man alte Routen, obwohl es schon neue und bessere Straßen gibt.
Bieten Sie Cloud-Skeptikern Alternativen?
Unsere Strategie ist eindeutig. Maschinenüberwachung ohne Cloud bietet keine nachhaltigen Mehrwerte für alle Parteien. Wir werden aber mittelfristig die Lösung von lokal fungierenden Systemen anbieten. Diese sind dann zwar im Funktionsumfang beschränkt, jedoch kann sich der Kunde damit langsam an die neuen Funktionen gewöhnen und dann zum für ihn passenden Zeitpunkt auf die Cloud migrieren.
Die Anforderungen für den Betrieb von Gebläse- und Kompressorenpaketen unterscheiden sich je nach Branche. Welche Anforderungen beobachten Sie für die Chemie und Prozesstechnik?
In der Chemie und Prozesstechnik geht es im Wesentlichen darum, die Verfügbarkeit zu maximieren. Ungeplante Stillstände und auch lange Stillstandszeiten durch Wartungen sind ein No-Go. Wir unterstützen daher den Kunden in der Verbesserung seiner OEE.
Bleiben wir bei der Chemie und Prozesstechnik: Wie könnten Lösungen Ihrerseits zur Erfüllung dieser Anforderungen aussehen?
Durch Availability Management können wir den Ausfall von Maschinen weit im Voraus vorhersagen. Dies gibt dem Betreiber die Möglichkeit, zu reagieren. Er kann die Restlebenszeit der Maschine durch eine Lastreduzierung verlängern und zudem bereits Vorbereitungen für die anstehende Reparatur treffen. Der Vorteil: AERprogress sagt direkt, welches Bauteil fehlerhaft ist. Das verkürzt die lange Fehlersuche, und Ersatzteile können bereits vor dem Öffnen der Maschine disponiert werden. Dadurch sinkt die Stillstandszeit auf einen Bruchteil.
Wie sieht Ihr Fünf-Jahres-Plan für Aerzen Digital Systems aus?
Der Plan ist so effizient wie simpel. Wir wollen deutlich weiterwachsen und das Portfolio an digitalen Services ausweiten. Zudem sind wir der festen Überzeugung, dass auch wir mit jeder neuen Maschine dazulernen werden. Sprich, wir wollen unsere Künstliche Intelligenz immer weiter verbessern und damit dem Kunden noch mehr Nutzen stiften. Uns geht es aber auch darum, dass man gerne mit unserer Aerzen Digital Platform arbeitet. Auch wenn wir im B2B-Bereich tätig sind, wird unser System noch immer von Menschen bedient. Diese schätzen Funktionen und Gesten, welche sie aus dem privaten Bereich kennen. Daher werden wir auch dahingehend uns immer hinterfragen, wie wir unserer Vision, der Customer Obsession, noch näherkommen.