Als wäre der Roboterkollege aus Fleisch und Blut arbeiten in der Fabrik der Zukunft Mensch und Maschine Seite an Seite – einträchtig, im Team und spontan: Das ist die Vision der Arbeitswelt von morgen.
Zwar haben Cobots, die kollaborativen Roboter, schon begonnen, die Industriehallen zu erobern. Aber noch ist es nicht so weit her mit dem Hand in Hand-Teamwork. Es gibt eine Schwachstelle: die körperliche Nähe des Menschen, der keinem festen Programm, sondern plötzlicher, mitunter unlogischer Eingebung folgt oder schlicht abgelenkt ist.
Nicht ohne Grund stecken Roboterarme in Fertigungsstraßen oft in Käfigen. Wer hier reinläuft, für den wird es gefährlich. Die schweren Metallmaschinen sind kraftvoll, geschickt und flink, sie schweißen, montieren, lackieren, stapeln und hieven. Aber – programmiert ist programmiert. Sie folgen strikt ihrem Bewegungsablauf. Und ist ein Mensch im Weg, dann ist er im Weg.
Mit Elektroden beschichtetes Elastomer
An einer neuen, smarten Art von Roboterarmen arbeitet das Team um Professor Stefan Seelecke und Juniorprofessor Gianluca Rizzello an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema). „Unsere Technologie der intelligenten Polymersysteme ermöglicht neuartige, weiche Roboterwerkzeuge, die leichter, wendiger und flexibler sind als die heutigen starren technischen Bauteile“, erklärt Stefan Seelecke. Ein ungeplanter Schubs eines solchen Roboterarms der Zukunft ist dann eher wie der eines menschlichen Kollegen.
Der Stoff aus dem diese neuen, weichen Roboterarme gebaut sind, heißt „dielektrisches Elastomer“, eine Unterart der Polymere. Aus diesem Verbundwerkstoff erschaffen die Saarbrücker Forscherinnen und Forscher künstliche Muskeln und Nerven. Die besonderen Eigenschaften des Werkstoffs machen es möglich, nach dem Vorbild der Natur zu arbeiten: Elastomere lassen sich stauchen und nehmen ihre ursprüngliche Form wieder ein, strecken sich also wieder.
„Wir bedrucken das Elastomer beidseitig mit Elektroden. Legen wir eine elektrische Spannung an, ziehen sich die Elektroden an und stauchen das Elastomer, das dabei gleichzeitig seine Fläche ausdehnt“, erklärt der Juniorprofessor für Adaptive polymerbasierte Systeme, Dr. Gianluca Rizzello. Der gebürtige Italiener arbeitet seit 2016 mit Seelecke in dessen Team. Das Elastomer kann sich also zusammenziehen und strecken wie ein Muskel. „Diese Eigenschaft nutzen wir als Aktor, also als Antrieb“, erklärt Rizzello. Indem sie das elektrische Feld ändern, lassen die Ingenieure das Elastomer hochfrequent vibrieren, stufenlos kraftvolle Hub-Bewegungen vollführen oder auch in jeder gewünschten Stellung verharren.
Aus vielen dieser kleinen Muskeln setzen die Forscher nun flexible Roboterarme zusammen. In einem Roboter-Tentakel aneinandergereiht, bewirkt ihr Zusammenspiel, dass dieser sich wie der Fangarm eines Kraken in alle Richtungen biegen und schlängeln kann: Anders als bei den schweren und starren Robotergelenken heute üblicher Roboter, die wie beim Menschen Bewegungen nur in bestimmte Richtung zulassen, sind der Freiheit dieses Tentakels keine Grenzen gesetzt.
Für ihre Arbeit am Prototyp dieser Elastomer-Muskel-Tentakel, hat Gianluca Rizzello zusammen mit seinem Doktoranden Johannes Prechtl jüngst den Best Paper Award auf der RoboSoft2021-Konferenz erhalten, eine von vielen Auszeichnungen der Arbeitsgruppe um Stefan Seelecke. Ein Tentakel-Prototyp soll in etwa einem Jahr vorliegen.
Muskeln fungieren als Nerven, ohne zusätzliche Sensoren
Gianluca Rizzello ist Spezialist, wenn es darum geht, dem Kunststoff Intelligenz einzuhauchen. Er gibt dem Roboter-Gehirn, also der Steuerungseinheit, den nötigen Input, damit sie den Arm intelligent bewegen kann – ein überaus anspruchsvolles Unterfangen. „Diese Systeme sind komplexer als die heutiger Roboterarme. Polymerbasierte Komponenten mit künstlicher Intelligenz zu steuern, ist weit schwieriger als bei herkömmlichen mechatronischen Systemen“, erklärt Rizzello.
Die Elastomer-Muskeln fungieren dabei zugleich als Nerven des Systems: Sie haben selbst Sensor-Eigenschaften. Daher kommt dieser Roboterarm ohne weitere Sensorik aus. „Jede Verformung des Elastomers, jede Änderung seiner Geometrie, bewirkt eine Änderung der elektrischen Kapazität und lässt sich präzisen Messwerten zuordnen. Messen wir die elektrische Kapazität, wissen wir, wie das Elastomer gerade verformt ist und können hieraus sensorische Daten ablesen“, erläutert der Ingenieur.
Mit diesen Werten lassen sich die Bewegungsabläufe präzise modellieren und programmieren: Hierfür intelligente Algorithmen zu entwickeln, um den neuartigen Roboter-Tentakeln ihr gewünschtes Verhalten anzutrainieren, steht im Mittelpunkt von Gianluca Rizzellos Forschung. „Wir arbeiten daran zu verstehen, welche physikalischen Eigenschaften dem Verhalten der Polymere zugrunde liegen. Je mehr wir darüber wissen, umso passgenauere Algorithmen können wir zu ihrer Steuerung entwerfen“, sagt der Juniorprofessor.
Skalierbar für verschiedene Anwendungsgebiete
Die Technologie wird skalierbar sein: Sie kann in feinen Tentakeln etwa für medizinische Instrumente zum Einsatz kommen, aber auch bei großen Industrierobotern. Anders als die heutigen Roboterarme, die schon mit ihrem beachtlichen Gewicht gegen die Schwerkraft ankämpfen müssen, werden diese Roboterarme leicht sein.
„Sie kommen ohne Motoren, Hydraulik oder Druckluft aus und funktionieren nur mit elektrischem Strom. Die Bauform der Elastomer-Muskeln kann dem jeweiligen Bedarf angepasst werden. Auch brauchen sie nur wenig Energie. Je nach Kapazität sind dies nur Ströme im Mikroampere-Bereich. Das macht diese Robotertechnologie, für die wir derzeit die Grundlagen erforschen, energieeffizient und kostengünstig“, erklärt Stefan Seelecke.