Neuer Annex 1 „Stärkerer Fokus auf ein ganzheitliches, risikobasiertes Vorgehen“

Dr. Johannes Rauschnabel, Leiter der Vorausentwicklung bei Syntegon Technology: „Der neue Annex 1 schafft wegen seiner weltweiten Harmonisierung die Voraussetzung für eine Gültigkeit globaler Standards, was viele Vorteile für die Verfügbarkeit und Sicherheit von Medikamenten haben könnte.“

Bild: Syntegon

Was ist das Ziel des Annex 1?

Der EU GMP Annex 1 ist ein Leitfaden, der die Anforderungen an die Herstellung steriler Produkte in der pharmazeutischen Industrie festlegt. Unter GMP, in Englisch „Good Manufacturing Practice“ und zu Deutsch „Gute Herstellungspraxis“, wird der Teil der Qualitätssicherung verstanden, der gleichbleibende Qualitätsstandards bei der Produktion und Prüfung von Arzneimitteln oder Wirkstoffen sicherstellt. Der Anhang 1 dieser GMP-Verordnung behandelt unter anderem die Reinraumqualifizierung in der Herstellung steriler pharmazeutischer Produkte und dient als Referenz für deren Überwachung und Überprüfung. Dies ist nicht nur für die pharmazeutische Produktion in Europa relevant: Obwohl der Annex 1 eine EU-Richtlinie ist, wurde sie von den Mitgliedsländern der Pharmaceutical Inspection Convention Schemes (PIC/S) vollumfänglich und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weitestgehend adaptiert. Der Annex 1 bildet außerdem die Vorgabe für die Herstellungsprozesse von in die EU importierte Medikamente – und hat damit alles in allem eine bisher nicht dagewesene, globale Relevanz.

Im August 2023 ist eine überarbeitete Version des Annex 1 in Kraft getreten. Warum wurde der Annex 1 überarbeitet?

Der erste Annex 1 erblickte im Jahr 1971 das Licht der Welt. Seither wurden zahlreiche Veränderungen vorgenommen. Die Veröffentlichung der letzten offiziellen Fassung erfolgte 2008. Doch nie hat das Dokument eine so umfassende Überarbeitung erfahren wie bei der neuen Version. Jahre vor dem Inkrafttreten wurden alle wichtigen Stakeholder dazu aufgefordert, zum neuen Text Stellung zu beziehen – was wir dann auch als Anlagenbauer über Industrievereinigungen getan haben. Aus dem ersten Entwurf von 2017 wurde nach Kommentierung durch die Industrie eine zweite Version 2020 veröffentlicht, die dann in das finale Dokument 2022 mündete. Doch warum wurde der Annex 1 überhaupt überarbeitet? Zum einen hat sich die pharmazeutische Industrie in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Die Bevölkerung wird älter und leider nicht gesünder. Die logische Konsequenz sind neue Behandlungsmethoden und eben auch gänzlich neue Medikamente, die unter viel strikteren Bedingungen hergestellt und verarbeitet werden müssen. Zum anderen sind mittlerweile Technologien verfügbar, die den Menschen als größte Kontaminationsquelle im Herstellungsprozess durch Automation von den sterilen Kernprozessen fernhalten können.

Was sind die wichtigsten Änderungen im neuen Annex 1 und inwiefern unterscheiden sie sich von der vorherigen Version?

Wie gewichtig die Änderungen sind, zeigt sich allein im Umfang des neuen Dokuments: Es umfasst jetzt 58 statt bisher 16 Seiten und der Umfang des Kapitels zur Barriere-Technologie hat sich sogar vervierfacht. Für die Trennung des aseptischen Prozessraumes von der Bedienerumgebung empfiehlt das neue Dokument zum ersten Mal eindeutig, entsprechende Barriere-Technologien einzusetzen. Isolatoren und Restricted Access Barrier Systems, kurz RABS, werden dabei als gleichwertig betrachtet. RABS wurden in der letzten Fassung zum ersten Mal erwähnt; heute ist der Begriff im Dokument ganze 27 Mal wiederzufinden. Allerdings sind die Anforderungen an ein RABS extrem hoch, um als gleichwertig zum Einsatz von Isolatoren gelten zu dürfen.

Welche Auswirkungen hat der neue Annex 1 auf die Herstellung und Qualitätskontrolle von pharmazeutischen Produkten?

Insgesamt hat die neue Richtlinie einen stärkeren Fokus auf ein ganzheitliches, risikobasiertes Vorgehen. Die zu erarbeitende Contamination Control Strategy (CCS) betrifft nicht nur die Arbeitsweisen in der Produktion, um mikrobiellen, partikulären und fieberverursachenden Verunreinigungen im Endprodukt vorzubeugen, sondern auch die gesamte Herstellungskette vom Rohstoff über Komponenten und Packmittel bis hin zum fertigen Medikament. Beim Quality Risk Management (QRM) sind auch die Anlagenhersteller in der Pflicht: Eine gute Konstruktion von Anlage, Ausrüstung und Prozess ist ausschlaggebend für eine Annex 1-konforme Produktion. Gemäß den QRM-Grundsätzen lassen sich potenzielle Qualitätsrisiken proaktiv identifizieren, auf Basis ausreichender Daten wissenschaftlich bewerten und kontrollieren. Qualifizierungs- und Validierungsmaßnahmen weisen nach, dass sowohl das Design als auch die Verfahren korrekt implementiert wurden. Aber natürlich gibt es auch unmittelbare Auswirkungen auf den Herstellprozess: Vor dem Hintergrund der stärker geforderten Barrieretechnologie rücken auch Robotersysteme und die Automatisierung stärker in den Vordergrund. Diese werden im zweiten Kapitel unter dem Schlagwort „Appropriate Technologies“ besonders hervorgehoben. Durch den Einsatz solcher Technologien lassen sich Handschuhe und menschliche Eingriffe in Barrieresystemen auf ein absolutes Minimum reduzieren oder sogar eliminieren.

Wie wird der neue Annex 1 die Entwicklung und Validierung von Reinigungsverfahren und anderen Produktionsprozessen beeinflussen?

Gerade das zuvor erwähnte Thema Handschuhe bringt viele Herausforderungen mit sich. So sollen bei längeren Kampagnen Handschuhe im Betrieb zusätzlich getestet werden – was mit den bisher üblichen Handschuhprüfgeräten nicht möglich ist, ohne die Integrität des Abfüll-Sterilraums zu riskieren. Neben der sehr herausfordernden, aseptischen Rüstsituation betrifft das bei RABS die ausnahmsweise Intervention mit Türöffnung während der Produktion. Der Desinfektionsprozess ist hier sehr anspruchsvoll, da die letzten Schritte mit geschlossenen Türen vorgenommen werden müssen. Gleichzeitig dürfen sich die Desinfektionsreagenzien nicht auf Packmittel, Komponenten und unverschlossene Produkte auswirken.

Wie könnten die potenziellen Kosten für die Umsetzung des neuen Annex 1 die Wettbewerbsfähigkeit von pharmazeutischen Unternehmen beeinflussen?

Die Kosten für eine nachträgliche, Annex 1-konforme Umrüstung sind für Bestandsmaschinen hoch – vor allem dann, wenn neue Produkte auf die Herstellungslinien genommen werden. Neuentwicklungen wie unsere handschuhlose Produktionszelle Versynta microBatch, die wir übrigens in einer Entwicklungspartnerschaft mit dem CDMO Vetter bereits seit 2019 vorangetrieben haben, sind exakt auf die (damals noch potenziellen) neuen Anforderungen hin konzipiert worden. Für weiterlaufende Maschinen-Plattformen haben wir Anpassungen umgehend umgesetzt, so dass alle Maschinen, die nach Veröffentlichung des finalen Textes in die Auftragsbücher genommen wurden, Annex 1-konform ausgeliefert werden konnten bzw. können. Doch auch wer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht für den Annex 1 gerüstet war, hat meist schnelle Abhilfe erhalten. Bei Syntegon haben wir zum Beispiel im Jahr nach der Veröffentlichung einen wahren „Run“ auf RABS-Aufrüstungen bestehender Reinraum-Linien erfahren, der bis heute andauert. Eine Nachrüstung empfiehlt sich immer dann, wenn neue Produkte auf die Bestandslinien gebracht werden, denn jede neue Vermarktungsautorisierung basiert auf der Erfüllung der GMP-Vorschriften – einschließlich des Annex 1. Die damit verbundenen Kosten amortisieren sich durch die Flexibilität der Produktionsanlagen für ein größeres Produktspektrum und durch noch bessere Qualitätskennzahlen.

Inwieweit wird der neue Annex 1 die regulatorische Landschaft verändern, insbesondere im Hinblick auf die GMP-Compliance und Inspektionen?

Der neue Annex 1 schafft wegen seiner weltweiten Harmonisierung die Voraussetzung für eine Gültigkeit globaler Standards, was viele Vorteile für die Verfügbarkeit und Sicherheit von Medikamenten haben könnte. Es ist aber noch zu früh, um abschließend zu beurteilen, ob diese Dividende eingesammelt werden kann. Behörden aus allen Regionen sind immer noch damit beschäftigt, die Anforderungen für ihren Markt abzuleiten. Dabei stellen sich unterschiedliche Interpretationen ein: von risikobasierter, produktangepasster bis hin zu wortgetreuer und zahlengenauer Umsetzungserwartung. Es kann eine Weile brauchen, bis sich alle Parteien auf eine einheitliche Auslegung des Annex 1 geeinigt haben – so sie denn überhaupt zustande kommen wird. Die Chancen dafür wären so gut wie nie.

Vertreter der pharmazeutischen Industrie befürchten eine Überregulierung durch den neuen Annex1. Stimmen Sie dem zu?

Einerseits lässt der neue Annex 1 Spielraum für Interpretationen (QRM, CCS, risikobasierter Ansatz), andererseits befürchten viele Akteure tatsächlich eine Überregulierung. Ein gutes Beispiel ist das sogenannte „First Air“-Prinzip“, das zum ersten Mal in einer europäischen GMP-Richtlinie thematisiert wird. First Air bezieht sich auf eine filtrierte, gerichtete Luftströmung, die vor dem Kontakt mit dem offen exponierten Produkt oder den produktberührenden Flächen nicht unterbrochen werden darf. Doch diese unterbrechungsfreie Strömung ist nicht überall möglich. Eine typische Ausnahme bildet die Füllnadel samt Füllnadelhalter, die exakt über dem offenen, vorsterilisierten Packmittel positioniert werden muss, um eine verlustfreie Füllung zu erreichen. Es wird aktuell erwartet, dass diese Bauteile aerodynamisch so gestaltet sind, dass Verwirbelungen minimiert und die Gegenstände separat sterilisiert und aseptisch eingebaut werden können. Das stellt nicht nur Pharmaunternehmen, sondern auch Anlagenhersteller vor große Herausforderungen. Lösungen dazu gibt es jetzt, aber weitere Optimierungen werden nötig sein, um einen bequemen und ergonomischen Rüstvorgang zu ermöglichen – oder diesen vollständig robotisch auch bei Produktionslinien höherer Ausbringung durchführen zu lassen.

Wie reagiert Syntegon auf die Herausforderungen, denen sich pharmazeutische Unternehmen bei der Umsetzung des neuen Annex 1 gegenübersehen?

Wir sind mit unseren Kunden im engen Austausch und haben uns intensiv mit den Anforderungen des neuen Annex 1 befasst – natürlich nicht erst seit der Veröffentlichung. Bereits bei der ersten Konsultation haben wir ein Team gebildet, das sich in die Tiefen der potenziellen Herausforderungen eingearbeitet und Lösungsvorschläge erarbeitet hat. Wie bei der zuvor erwähnten Produktionszelle Versynta microBatch der Fall, haben wir bei Neuentwicklungen auch Partnerschaften angestrebt. Da wir unsere Kunden seit Jahren zur Annex 1-Konformität beraten, konnten wir zahlreiche Umrüstprojekte bereits vor Inkrafttreten der Richtlinie zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Doch die Arbeit geht weiter: Gerade bei Barrieretechnologien und dem aseptischen Rüsten der direkten und indirekten produktberührenden Teile ist noch viel zu tun. Pharmazeutische Hersteller müssen sich die Frage stellen, mit welcher Technologie sie sich auf die Reise in die Zukunft begeben wollen. Für die Zulassung neuer Produkte benötigen sie jetzt schon mindestens ein RABS; eine Neuzulassung eines Medikamentes auf existierenden Reinraumlinien wird nur noch in Ausnahmefällen möglich sein. Wir beraten unsere Kunden umfassend bei dieser Transformation und haben natürlich auch die passenden Technologien im Portfolio.

Wie sieht der Beitrag von Syntegon zur Unterstützung pharmazeutischer Unternehmen bei der Umsetzung der neuen Anforderungen des Annex 1 aus?

Wie bereits erwähnt ist Syntegon gut auf die neuen Anforderungen vorbereitet gewesen – zum einen mit Neuentwicklungen, zum anderen aber auch mit zahlreichen Angeboten für die Annex 1-konforme Nachrüstung von Bestandsanlagen. Ein Beispiel ist unser neuer patentierter Settle Plate Changer SPC 1000 für das mikrobielle Monitoring bei der Abfüllung steriler Produkte. Sedimentationsplatten dürfen der Reinraumluft maximal vier Stunden ausgesetzt sein und müssen dann getauscht werden. Der neue automatische Settle Plate Changer reduziert die manuellen Bedienereingriffe zum Austausch der Platten signifikant. So lassen sich die erforderlichen Produktionsunterbrechungen und der negative Einfluss auf die Maschinenverfügbarkeit stark verringern – und menschliche Eingriffe in die Prozesszone auf ein Minimum reduzieren. Auch für unsere Vakuum-Dampf-Sterilisatoren haben wir eine einfache, doch wirksame Lösung parat: Kapitel 8.61 des neuen Annex 1 schreibt vor, dass eine angemessene Luftentfernung vor und während der Sterilisation sowohl aus der Sterilkammer als auch aus dem Sterilgut erfolgen muss. Mit unserem Air Detector System lassen sich nicht kondensierbare Gase in der Kammer automatisch detektieren. Die Messwerte werden dokumentiert, sodass die Einhaltung der Vorgaben auch nachgewiesen werden können.

Welche langfristigen Auswirkungen erwartet Syntegon durch den neuen Annex 1 auf die pharmazeutische Industrie?

Der neue Annex 1 wird die sterile Abfüllung stark verändern. Viele neue, verbindliche Details erfordern innovative Lösungen, während die fortschreitende Automatisierung weitere Optimierungen ermöglicht. Auch wenn schon einige Monate ins Land gegangen sind, befinden wir uns noch in der frühen Phase nach Inkrafttreten. Doch eins ist sicher: Der neue Annex 1 ist gekommen, um zu bleiben. Und trotz bestimmter Herausforderungen und Widersprüche hat er eine klare Intention: Patientinnen und Patienten weltweit mit Medikamenten höchster Qualität zu versorgen. Deshalb geht es aktuell mehr denn je darum, dass alle Akteure – von Pharmaunternehmen über Inspektoren bis hin zu Zulieferern – im engen Austausch bleiben und voneinander lernen.

Bildergalerie

  • Ein Mitarbeiter in einem Reinraum inspiziert eine Produktionsanlage zur Herstellung steriler pharmazeutischer Produkte – ein zentrales Thema des überarbeiteten EU GMP Annex 1, der auf modernste Barriere-Technologien und Automatisierung setzt, um Kontaminationen zu minimieren.

    Ein Mitarbeiter in einem Reinraum inspiziert eine Produktionsanlage zur Herstellung steriler pharmazeutischer Produkte – ein zentrales Thema des überarbeiteten EU GMP Annex 1, der auf modernste Barriere-Technologien und Automatisierung setzt, um Kontaminationen zu minimieren.

    Bild: Syntegon

  • Ein moderner Isolator von Syntegon: Diese Technologie trennt aseptische Prozessräume von der Bedienerumgebung und minimiert menschliche Eingriffe, um höchste Sterilität und Produktsicherheit zu gewährleisten.

    Ein moderner Isolator von Syntegon: Diese Technologie trennt aseptische Prozessräume von der Bedienerumgebung und minimiert menschliche Eingriffe, um höchste Sterilität und Produktsicherheit zu gewährleisten.

    Bild: Syntegon

  • Versynta von Syntegon: Diese hochmoderne Isolator-Technologie bietet eine flexible und sichere Lösung für die aseptische Produktion von kleinen Chargen.

    Versynta von Syntegon: Diese hochmoderne Isolator-Technologie bietet eine flexible und sichere Lösung für die aseptische Produktion von kleinen Chargen.

    Bild: Syntegon

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