Düngemittel für die Welt Stickstoffgewinnung: Alternativen zum Haber-Bosch-Verfahren gesucht

Prof. Dr. Roland Marschall an der Apparatur für Gasphasen-Photokatalyse in seinem Labor für Physikalische Chemie

Bild: Christian Wißler, Universität Bayreuth
28.06.2022

Industriell verwertbaren Stickstoff für die Düngemittelproduktion nachhaltig zu produzieren, steht im Zentrum des Programms „Nitroconversion“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Koordinator des Programms ist der Physikochemiker Prof. Dr. Roland Marschall. An der Universität Bayreuth entwickelt er hierzu aktuell ein Verfahren zur On-Demand-Ammoniakproduktion.

Seit mehr als 100 Jahren verwendet die chemische Industrie zur Gewinnung von industriell verwertbarem Stickstoff das Haber-Bosch-Verfahren. Auf diese Weise werden jährlich rund 180 Millionen Tonnen Ammoniak (NH3) synthetisch hergestellt. Sie werden für die Produktion von Düngemitteln, beispielsweise aber auch von Kältemitteln oder Kunststoffen eingesetzt.

Das Haber-Bosch-Verfahren verbraucht verhältnismäßig viel Energie, und die CO2-Emissionen sind hoch: So verursacht der Prozess weltweit etwa ein Prozent des jährlichen Treibhausgasausstoßes. Deshalb ist das Schwerpunktprogramm „Nitroconversion“ darauf ausgerichtet, grundlegend neue Wege für eine nachhaltigere Stickstoffgewinnung zu erschließen. Wesentliche Aspekte sind dabei die klimafreundliche Nutzung erneuerbarer Energien und die Optimierung der Wertschöpfungsketten. Das Programm leistet damit auch einen Beitrag zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen.

Ammoniak bedarfsgerecht herstellen

Eines der neuen Projekte an der Universität Bayreuth befasst sich mit den Grundlagen und der Entwicklung eines neuen Verfahrens, das eine effiziente, kostengünstige und bedarfsorientierte Ammoniakherstellung ermöglicht. Auch Entwicklungsländer können so stickstoffhaltige Düngemittel für nährstoffarme Böden produzieren. Marschall kooperiert in diesem Projekt mit Prof. Dr. Barbara Milow am Institut für Werkstoff-Forschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln sowie mit Prof. Dr. Dirk Ziegenbalg am Institut für Chemieingenieurwesen der Universität Ulm.

Bei dem angestrebten Verfahren geht es darum, nanostrukturierte Halbleiter (TiO2-Aerogele) durch Lichtbestrahlung mit Elektronen zu laden. Diese Halbleiter werden im Dunkeln mit Stickstoffmolekülen (N2) entladen, sodass Ammoniak entsteht. „Unser Ziel in diesem Projekt ist eine bedarfsgerechte Produktion von Ammoniak zu jeder Zeit“, erklärt Marschall. „In weiteren Schritten wollen wir ein Konzept für einen neuartigen Reaktor entwickeln, mit dem diese On-Demand-Produktion ohne hohen technologischen Aufwand dezentral stattfinden kann.“ Während das Haber-Bosch-Verfahren auf große zentrale Industrieanlagen angewiesen sei, setze dieser alternative Weg auf eine flexible Düngemittelproduktion vor Ort.

Bindung von N2-Molekülen aufbrechen

Das Schwerpunktprogramm beschränkt sich aber nicht nur auf Ammoniaksynthese. Es setzt bei der grundsätzlichen Herausforderung an, dass Stickstoff in der Natur fast nur in Form von N2-Molekülen vorkommt. Darin sind zwei Stickstoffatome durch eine extrem starke Dreifachbindung gekoppelt. Diese Bindung muss aufgebrochen werden, damit Stickstoff für die Produktion von Düngemitteln und anderen Alltagsprodukten verfügbar wird.

Vor diesem Hintergrund befasst sich das zweite Forschungsprojekt an der Universität Bayreuth mit einem speziellen, aber zentralen Aspekt der Stickstoffgewinnung: der katalytischen Reduktion von N2. Natürliches Vorbild sind Enzymkomplexe, sogenannte Nitrogenasen, die von neuartigen Katalysatormaterialien nachgeahmt und möglicherweise sogar übertroffen werden sollen.

Die Forschungsarbeiten zielen darauf ab, geeignete Elektroden und Elektrolyt-Kombinationen zu entwickeln, die optimal geeignet sind, um die gewünschten elektro- und photoelektrokatalytischen Reaktionen in Gang zu setzen. Die Arbeiten beziehen auch neue Technologien des Elektrospinnings ein, um hybride Elektrolyte zu erproben, bei denen ionische Flüssigkeiten auf und in faserigen Strukturen fixiert sind. In diesem zweiten Projekt kooperiert Marschall mit der Bayreuther Ingenieurwissenschaftlerin Prof. Christina Roth und mit Prof. Dr. Andrea Balducci an der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

„Das Schwerpunktprogramm mit seinen insgesamt elf Forschungsprojekten bietet die einmalige Chance, in enger multi- und interdisziplinärer Zusammenarbeit den Voraussetzungen einer nachhaltigen Stickstoffgewinnung auf den Grund zu gehen und dafür Konzepte bereitzustellen, die flexibel und kostengünstig umgesetzt werden können“, sagt Marschall. Insgesamt seien jetzt 21 Universitäten und Forschungseinrichtungen am SPP 2370 beteiligt. „Wir werden darauf hinarbeiten, unter den Aspekten des Klimaschutzes, der Energieeffizienz und der Ressourcenschonung praktikable Lösungen zu erarbeiten, die nicht notwendigerweise an die hochtechnologischen Voraussetzungen westlicher Industrieländer gebunden sind. Die aktuell drohende Ernährungskrise infolge drastisch verringerter Düngemittel- und Getreide-Exporte zeigt die Dringlichkeit der Herausforderungen, die wir jetzt gemeinsam angehen wollen.“

Verwandte Artikel