Ein Gespenst geht um in der industrialisierten Welt: das Gespenst der dunklen Fabrik. Sie ist dunkel, weil keine Menschen darin sind – kein Grund also, das Licht einzuschalten. Maschinen erledigen die gesamte Arbeit. Falls diese Vision wahr werden sollte, so würde sie die Axt an die Grundlagen unserer Gesellschaft legen. Ein pessimistisches Szenario würde so aussehen, dass weite Teile der Bevölkerung den Zugang zu ihren Lebensgrundlagen verlieren würden. Löhne und Gehälter sind der zentrale Mechanismus für die Verteilung des Wohlstandes. Geht die bezahlte Arbeit aus, so würde das revolutionäre Folgen haben. Der soziale Frieden wäre in Gefahr.
Im Lauf der Geschichte haben Maschinen allerdings viel mehr Jobs erzeugt als ersetzt. Aber die heutige Welle der Automatisierung ist anders, sagt Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology MIT, der Autor des Buches The Second Machine Age. Künstliche Intelligenz (KI), maschinelles Lernen und das Internet der Dinge – kurz, die Industrie 4.0 – führen dazu, dass Maschinen immer rascher lernen, manuelle und kognitive Aufgaben ohne menschliche Aufsicht zu verrichten. „In der Vergangenheit haben Maschinen menschliche Arbeit ergänzt“, so McAfee. „In Zukunft werden sie sie ersetzen.“ Die Oxford-Ökonomen Carl Benedikt Frey und Michael Osborne veröffentlichten 2013 eine viel beachtete Studie über die Auswirkungen der Automatisierung. Darin kamen sie zu dem Schluss, dass bis zu 47 Prozent der Arbeitsplätze in den USA durch den Einsatz von Maschinen überflüssig werden könnten. Spätere Studien kamen zu ähnlichen Zahlen für andere Länder. Das wäre tief beunruhigend. Aber ist es auch wahr?
Maschinen erzeugen Jobs
Bis jetzt sprechen die Tatsachen eine andere Sprache. Eine wachsende Anzahl von Studien zeigt eine positive Korrelation zwischen Automatisierung und Arbeitsplätzen – nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch unter den Bedingungen von Industrie 4.0. Der positive Einfluss, den Roboter auf den Arbeitsmarkt haben, zeigt sich zum Beispiel in Deutschland, sagt Joe Gemma, Vorsitzender der International Federation of Robotics (IFR). Die deutsche Autoindustrie hat den höchsten Grad der Robotisierung in allen Branchen in Europa, mit etwa 1.150 Robotern pro 10.000 Angestellten. „Das Ergebnis ist“, so Gemma, „dass die Anzahl der Jobs in der deutschen Autobranche zwischen 2010 und 2015 um 93.000 gestiegen ist.“ Ähnliche Trends sind in Großbritannien und den USA zu verzeichnen. Der weltweit größte Markt für industrielle Roboter ist China, eher ein Neuling in Sachen moderner Automatisierung. Hin und wieder ist zu hören, dass die dunkle Fabrik in der chinesischen Industrie Realität werden könnte. Das ist unwahrscheinlich, denn der Grad der Robotisierung ist in China außerordentlich niedrig. Auf 10.000 Arbeiter kommen rund 30 Roboter. Die zunehmende Automatisierung technikintensiver Branchen in China, etwa die Auto-Industrie, dient nicht primär dazu, Stellen abzubauen. Sie dient dazu, die fraglichen Unternehmen wettbewerbsfähig zu machen und damit Arbeitsplätze zu erhalten.
Dazu kommt, dass typischerweise nicht Jobs durch Automatisierung ersetzt werden, sondern Aufgaben innerhalb von Jobs. Die Folge ist, dass die meisten Jobs sich verändern – aber sie verschwinden nicht. Eine Studie des McKinsey Global Institute aus dem Jahr 2017 kommt zu demselben Ergebnis: „Die Automatisierung wird mehr Stellen verändern als wegrationalisieren.“
Ausbildung und Training
Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass der Übergang einfach wird. Im Bereich der mittleren Einkommen, in dem die meisten Menschen arbeiten, haben Angestellte mit den richtigen Skills gute Aufstiegschancen, weil der Wert ihrer Arbeit steigt. Aber es gibt nicht genug von ihnen. Weltweit wird das Angebot an Arbeitskräften mit den passenden Fähigkeiten bis 2020 um rund 40 Millionen unter dem Bedarf bleiben, so McKinsey. Gleichzeitig drohen Arbeitern ohne die richtigen Skills neue Abstiegsrisiken. Seit etwa fünf Jahren bieten sogenannte offene Online-Kurse oder Mass Open Online Courses (MOOC) eine Antwort auf diese Herausforderung. Sie ermöglichen es Angestellten, sich neben der Arbeit fortzubilden. Coursera ist einer der am besten etablierten MOOC. Zurzeit hat der Dienst rund 24 Millionen registrierte Studenten. Der Gründer und chinesisch-amerikanische Informatiker Andrew Ng von der Stanford Universität arbeitet von Haus aus im Bereich der künstlichen Intelligenz. „Als KI-Forscher“, sagte er in einem Interview mit dem Economist, „ist es unsere moralische Verantwortung, die Probleme, die wir in die Welt setzen, auch anzugehen.“
Die Arbeit verändert sich
Die Ausbildung am Arbeitsplatz ist ebenso wichtig. Das deutsche duale System kann dabei einen wertvollen Beitrag leisten. Der Siemens Campus in Erlangen, 2017 eröffnet, ist ein Beispiel dafür. Dort arbeiten die Auszubildenden mithilfe von Augmented-Reality-Brillen mit Leichtbaurobotern zusammen. Sie lernen virtuell Schweißen, prüfen ein konstruiertes mechanisches Bauteil digital auf seine Funktionalität oder testen den Programmcode von Automatisierungsanlagen zuerst an einem virtuellen Simulationsmodell. Das geht weit über traditionelle Ausbildungsmethoden hinaus. Siemens und viele andere deutsche Firmen exportieren diesen Ansatz und arbeiten mit öffentlichen und privaten Partnern zusammen, etwa in China und den USA, um auch dort duale Systeme zu etablieren. Wenn industrielle Herstellung mit Informations- und Kommunikationstechnik verschmilzt, ergeben sich neue Aufgaben für die Angestellten. Ihre Arbeit dreht sich zunehmend um Planung und Koordination, um Aufsicht, Überblick und das Treffen von Entscheidungen. Soweit ihre Arbeit manuell bleibt, wird sie zunehmend durch Maschinen wie kollaborative Roboter ergänzt. Auch auf Angestellte auf der Ebene des Managements kommen neue Aufgaben zu. So schreibt Sabine Bendiek, Vorsitzende der Geschäftsführung bei Microsoft Deutschland, auf ihrem Blog: „Als Führungskraft spüre ich, wir brauchen neue Kompetenzen. Wir müssen mehr coachen als führen, mehr ermöglichen als bestimmen, mehr Prozesse als Aufgaben steuern.“
Aber die Automatisierung beschränkt sich nicht auf die herstellende Industrie. Auch in anderen Bereichen spielt sie eine immer größere Rolle. Ärzte etwa können mithilfe von KI ihre Resultate signifikant verbessern. So haben neuere Tests ergeben, dass manche Formen der automatischen Bilderkennung bei der Klassifizierung von malignen Tumoren durch Röntgenbilder und CT-Scans bis zu 50 Prozent bessere Ergebnisse erzielen als ein Team von menschlichen Radiologen. Obendrein hatten die Maschinen eine Falsch-negativ-Rate von Null, verglichen mit sieben Prozent beim menschlichen Team.
Mobilität ist ein weiteres Beispiel. Selbstfahrende Autos sind das bekannteste Beispiel. Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig, ist der Einfluss der Automatisierung auf andere Bereiche, zum Beispiel automatische Steuerungssysteme für Züge und U-Bahnen. Diese verbessern die Pünktlichkeit und Taktzeit – und sparen Zeit für den Fahrer, der sich deshalb mehr auf die Sicherheit der Passagiere konzentrieren kann. Die heutige Welle der Automatisierung und Digitalisierung verändert nicht nur einzelne Berufsbilder. Sie verändert den gesamten Arbeitsprozess, ob in Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung, Sourcing, Herstellung oder Distribution. Der Trend ist in allen Bereichen derselbe: Vernetzung schlägt Hierarchie.
Digitaler Zwilling
Die Verschmelzung der virtuellen und „echten“ Aspekte der Produktion ist der Schlüssel zur Industrie 4.0. Nichts verkörpert diesen Ansatz besser als der digitale Zwilling – eine virtuelle Darstellung eines Produkts bis zum letzten technischen Detail. Diese Verbindung der virtuellen mit der echten Welt ermöglicht umfängliche Datenanalysen und die proaktive Wartung von Systemen, um Probleme auszuräumen, bevor sie auftreten und Ausfallzeiten vorzubeugen. Durch den Einsatz von Simulationen erschließt sie außerdem neue Möglichkeiten und eine genauere Planung für die Zukunft. Das Ziel besteht letztlich darin, Produkte vollständig in einer virtuellen Umwelt zu entwickeln, zu testen und herzustellen – sodass die handgreifliche Herstellung erst dann beginnt, wenn das Produkt seine Funktionsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt hat.
Durchgängige 3D-CAD-Modellketten sind ein entscheidender Teil des digitalen Zwillings. Die Forschungsarbeit bei Siemens Power and Gas (PG) ist ein Beispiel für die Effektivität dieses Ansatzes. „Diese neuen Modellierungs- und Verwaltungsmethoden stellen eine wichtige Abkürzung des Produktionsprozesses dar“, sagt Bernhard Wegner, Development Engineer bei der Siemens-Division Power Generation. „Sie sparen auf dem Weg von der Entwicklung zur Fertigung bis zu drei Monate ein“, mit Hinblick auf die Fertigung von Gasturbinen. Zugleich senken sie die Kosten und steigern die Qualität. Kurz gesagt, der digitale Zwilling und die Industrie 4.0 geben der Produktivität einen Schub.
Die besten Nachrichten der Welt
Dieser Gewinn an Produktivität ist eine gute Nachricht. Andrew McAfee, der MIT-Professor, der fürchtet, dass Industrie 4.0 die menschliche Arbeit untergräbt, geht sogar noch weiter. „Das sind die besten Nachrichten der Welt“, sagt er, weil die Steigerung der Produktivität das Potenzial hat, das Auskommen der gesamten Weltbevölkerung zu verbessern. Was ihn beunruhigt, ist darum auch nicht die von ihm sogenannte „Bounty” oder Belohnung – das gesamte Produkt – sondern der „Spread”, die Verteilung. Wie sollen die Menschen an der Steigerung der Produktivität teilhaben, wenn dieselbe Steigerung die menschliche Arbeit unterminiert?
Diese Sorge ist einseitig, findet der MIT-Ökonom David Autor. „Selbst Experten neigen dazu, die Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen zu übertreiben“, schrieb er in einer Studie aus dem Jahr 2015. „Die Automatisierung ersetzt zwar tatsächlich Arbeit – das ist ja typischerweise auch ihr Ziel. Aber die Automatisierung ergänzt die Arbeit auch“, fügt er hinzu, „und steigert die Leistung auf eine Art, die zu mehr Nachfrage nach Arbeit führt.“ Es sieht ganz so aus, als würde das Gespenst der dunklen Fabrik eine Geistergeschichte bleiben.
Justus Krüger ist unabhängiger Journalist in Hongkong und hat diesen Text für www.siemens.com/magazine geschrieben.
Dieser Artikel Teil des Fokusthemas „Fachkräfte & Weiterbildung" aus der A&D-Ausgabe 4-2018.