Prozessautomation Automatisierung aus einem Guss

Ralf Schmeisser, Leiter der Infrastrukturplanung und Entwicklung, Merck Darmstadt. Er hat Mercks Blockheizkraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung mitgeplant.

Bild: Siemens
17.09.2015

Mit einer Investition von mehreren Millionen Euro sichert ein Pharmakonzern die Energieversorgung seiner Chemie- und Pharmabetriebe. Das Konzept der Anlage für die pharmazeutische Produktion und Forschung ermöglicht eine ressourcenschonende Energieerzeugung, senkt die CO2-Emissionen und erhöht die Strom-Eigenproduktionsrate auf 70 Prozent.

Das Unternehmen Merck zählt bei Pharma-, Chemie- und Life-Science-Produkten zu den Weltmarktführern und ist in vielen Bereichen Technologieführer. In Darmstadt liegt mit rund 9.000 Mitarbeitern nicht nur Sitz der Konzernzentrale, sondern auch der Hauptsitz von drei der vier Sparten – ein wichtiger Produktions- und Forschungsstandort. Unter anderem stellt das Unternehmen dort Medikamente wie den Betablocker Concor, das Schilddrüsenmedikament Euthyrox oder das Antidiabetikum Glucophag her. Darüber hinaus produziert das Werk Flüssigkristallmischungen und forscht an Hightech-Lösungen im Performance-Materials-Bereich.

Faktor Kraft-Wärme-Kopplung

Auf dem Werksgelände ballen sich auf mehr als einem Quadratkilometer Anlagen für Forschung, Entwicklung, Produktion, Verpackung, Logistik und Verwaltung. All dies will mit Energie versorgt werden. „Deshalb haben wir vor Jahren beschlossen, zusätzlich zum bestehenden Blockheizkraftwerk, das knapp 60 Prozent unseres Stroms und unserer Abwärme liefert, den Eigenanteil durch ein modernes Kraftwerk weiter zu erhöhen“, erläutert Ralf Schmeisser, Leiter der Infrastrukturplanung und Entwicklung. Das neue Blockheizkraftwerk (BHKW) mit Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt aus Erdgas 3,12 MW Strom und 3,16 MW Wärme. Was die Kraft-Wärme-Kopplung so interessant macht: ihr Gesamtwirkungsgrad. Er liegt mit 87 Prozent deutlich höher als bei einer getrennten Erzeugung von Strom und Wärme.

Bis jetzt stellte das Unternehmen die Energien für alle Sparten zentral zur Verfügung. Doch heute unterscheiden sich die Anforderungen für die Chemie- und Pharmaproduktion deutlich, so zum Beispiel die Drücke der Druckluftanlagen. „Es macht wenig Sinn, die Druckluft in einer Anlage zu produzieren. Die neuen Energiezentralen stellen Strom und Dampf sowie Kälte und Druckluft direkt dort zur Verfügung, wo sie gebraucht werden“, so Schmeisser. Der Kältebedarf im Pharmabereich ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Deswegen hat Merck seine Energiezentrale für die Pharmaproduktion und -forschung in der Nähe der Anlagen errichtet und somit die Energieverluste minimiert.

Mit der Inbetriebnahme der Energiezentrale für den Pharmabereich im Juli 2014 erhöht das international aufgestellte Unternehmen den Anteil an selbst produziertem Strom am Standort Darmstadt auf 70 Prozent. Normalerweise nutzen Energiezentralen ein einziges Verfahren zur Kälteerzeugung. Anders bei Merck. Das Besondere daran: Das Management dreier Technologien. Die Anlage produziert Kompressionskälte, also Kälte aus Strom, Absorptionskälte, sprich Kälte aus Abwärme, und sie wandelt Kälte in Eis um. „Wir haben alle Möglichkeiten genutzt“, sagt Schmeisser. „Langfristig eine lohnende Investition, denn Strompreise sind sehr volatil.“ Wenn ein Stromüberangebot herrscht und der Strompreis niedrig ist, erzeugt die Anlage Kompressionskälte und friert Wasser in zwei überdimensionierten Kühlakkus als Energiespeicher ein. Ist der Strompreis zu Spitzenlastzeiten hoch, setzt das Personal die Kompressionskälte möglichst komplett außer Betrieb, nutzt den gefüllten Eisspeicher und entlastet so das Stromnetz. Der Wärmeinhalt pro Block beträgt zirka 5 MW. Der Absorber läuft im Allgemeinen rund um die Uhr.

Lastmanagement in der Kälteversorgung

„Es gibt einige Unternehmen, die ähnliche Konzepte durchgesetzt haben, aber nicht so konsequent wie Merck“, weiß Schmeisser. „Die drei Säulen bieten alle Möglichkeiten mit der Anlage zu ,spielen'. Und das ist auch das Innovative an dem Projekt. Ein BHKW zu bauen ist Standard und der übliche Weg. Daraus Kälte zu machen ist eher ungewöhnlich.“

Durch die verschiedenen Verfahren lässt sich Redundanz realisieren. Merck ist eines von wenigen Unternehmen, das über ein getestetes Blackout-Konzept verfügt. Das Ergebnis: Die Anlagen lassen sich sogar hochfahren, wenn es im öffentlichen Netz keinen Strom gibt.

„Wir haben hier Produkte, deren Herstellung 30 Tage dauert. Wird der Prozess unterbrochen, bleibt schlimmstenfalls nur die Entsorgung“, betont Schmeisser. „Wird bei bestimmten Pharmastoffen eine Temperaturgrenze überschritten, dürfen sie nicht mehr verkauft werden. Das kann sehr schnell sehr teuer werden.“

Neben der Verfahrenstechnik spielt die Steuerung der Anlage eine wichtige Rolle für den Betrieb. Nach Bewertung der angebotenen Automatisierungskonzepte und aufgrund der langjährigen, guten Erfahrungen mit Siemens, entschieden sich die Verantwortlichen bei Merck für eine Paketlösung des integrierten Technologiekonzerns. An Automatisierungskomponenten wurde für die Energiezentrale PH34/35 für den Pharma-Bereich das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 Version 8.0 mit PNK Automatisierungssystemen Simatic PCS 7 CPU 410 AS, Simatic ET200 M für die dezentrale Peripherie und ABK Simatic PCS7 Clients/Server in Form von Touchpanels geliefert.

Automatisierung als Paketlösung

Bei der Leittechnik und den speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) ist Siemens in vielen Betrieben auf dem Werksgelände im Einsatz. Zusätzlich zur kompletten Struktur des Prozessleitsystems Simatic PCS 7 nutzt Merck in der Pharma-Energiezentrale noch Simatic S7-300 als weitere, unterlagerte Steuerungen. Das Hauptargument, das für diese Automatisierungsstrategie sprach, ist die Bedienfreundlichkeit von Simatic PCS 7.

Die bewährten Simatic-Steuerungen ermöglichten es den Merck-Ingenieuren außerdem, auf bereits vorhandene Programme zurückzugreifen und dadurch wertvolle Zeit einzusparen. Was noch für die Lösung sprach: Fällt die Leittechnik einmal aus, läuft die Anlage, automatisiert über die Simatic-S7-300-Steuerung, dennoch weiter.

Das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 vereint eine skalierbare Architektur mit Engineering Tools und vielen nahtlos integrierbaren Zusatzfunktionen, wie Alarmmanagement, Anlagensicherheit oder Asset Management und erlaubt damit eine durchgängige und sichere Automatisierung. Integrierte Sicherheitskonzepte sorgen für den störungsfreien Betrieb der Anlagen und den Schutz von Mensch, Maschine und Umwelt. Die Anwender profitieren von hoher Anlagenverfügbarkeit, Investitionssicherheit und zukunftssicherer Technologie sowie reduzierten Total Cost of Ownership.

Die Steuerung Simatic S7-300 als unterlagerte Steuerung erlaubt einen platzsparenden und modularen Aufbau. Der Vorteil für die Anlagenbetreiber ist die volle Integrierbarkeit von beiden Systemen zu einem einheitlichen Leitsystem. Das vielfältige Baugruppenspektrum lässt sich aufgabenspezifisch für zentrale Erweiterungen oder den Aufbau dezentraler Strukturen verwenden und ermöglicht eine kostengünstige Ersatzteilhaltung.

Von Durchfluss bis Differenzdruck

An die Steuerung von Siemens werden in der Energiezentrale für die Pharmabetriebe magnetisch-induktive Durchflussmesser der Sitrans FM-Familie, Druck- und Differenzdruckmessumformer Sitrans P DS III sowie Widerstandsthermometer vom Typ Sitrans TS 500 mit eingebauten Temperaturmessumformern Sitrans TH 300 angeschlossen. Die eingesetzten Feldgeräte zeichnen sich jeweils durch eine einfache Bedienbarkeit, hohe Messgenauigkeit und darüber hinaus kurze Lieferzeiten aus. Die Integration in das PLS erfolgt dabei über den Process Device Manager (PDM).

„Wir haben Standards, die wir gerne einsetzen, zum Beispiel magnetisch-induktive Durchflussmesser für Wassermessungen. Mit den Geräten haben wir gute Erfahrungen gemacht und sind damit sehr zufrieden“, sagt Infrastrukturplaner Ralf Schmeisser.

Der elektromagnetische Durchflussmesser Sitrans FM MAG 5100W eignet sich speziell für Durchflussmessungen von Wasser, ganz gleich, ob Grundwasser, Trinkwasser, Kühlwasser, Abwasser oder Schlamm. Das komplette Durchflussmessgerät besteht aus Messaufnehmer und Messumformer. Merck entschied sich hier für die Kombination von Sitrans FM MAG 5100W und Sitrans FM MAG 5000, eine kostengünstige Messumformer-Variante mit einer Genauigkeit von ±0,4 Prozent der Durchflussmenge.

Für die beiden neuen Energiezentralen für die Chemie- und Pharmabereiche von Merck am Stammsitz Darmstadt lieferte Siemens die komplette Automatisierung. Sowohl magnetisch-induktive Durchflussmesser als auch Temperaturmessgeräte und Druckmessumformer sowie Steuerungen und Prozessleitsystem des integrierten Technologiekonzerns sind beim ältesten pharmazeutisch-chemischen Unternehmen der Welt im Einsatz.

„Die Automatisierungslösungen von Siemens ermöglichen uns einen effizienten Betrieb der Energiezentralen. Wir sind sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit, die wir in weiteren Projekten fortsetzen werden“, so der Head of Energy Supply bei Merck am Standort Darmstadt.

Bildergalerie

  • Die Sitrans-P-Druckmessumformer sind eine wesentliche Komponente in den beiden Energiezentralen.

    Die Sitrans-P-Druckmessumformer sind eine wesentliche Komponente in den beiden Energiezentralen.

    Bild: Siemens

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