Die Idee von der autogerechten Stadt ist lange begraben. In den letzten Jahren bemühen sich die Automobilhersteller zunehmend, stattdessen das stadtgerechte Auto zu konstruieren. Nicht ohne Erfolg: Aus den Studien von einst sind käufliche Produkte geworden, die auf den Messeständen der diesjährigen IAA bei vielen Herstellern im Zentrum des Interesses stehen. Allen voran geht BMW mit dem i3, der nicht die Ableitung eines bestehenden Serienproduktes ist, sondern mit CFK-Aluminium-Leichtbau und Elektroantrieb für die speziellen Anforderungen urbaner Mobilität konstruiert wurde.
Dass die Industrie sich dem Thema stellt, ist auf die zunehmende Urbanisierung in den immer wichtiger werden Absatzmärkten außerhalb der klassischen Industrieländer zurückzuführen. "Es gilt schlicht die Verkehrskapazität in den Städten zu erhöhen", erläutert Dr. Ulrich Eichhorn, Geschäftsführer Technik des Verbandes der Automobilindustrie (VDA). Gemeinsam mit der Redaktion von Mobility 2.0 hatte der VDA im Rahmenprogramm der IAA das Diskussionsforum "Mobil in der Stadt" gegründet. Die Motivation des VDA: Individualverkehr und Gütertransport korrelieren streng mit wachsendem Wohlstand. "Dies gilt über alle Länder und Zeiten", so Eichhorn. Die Erwartung, dass zunehmender Internethandel zu weniger Einkaufsverkehr führe, habe sich nicht erfüllt.
Neu sind solche Gedanken nicht. Bereits in den siebziger Jahren arbeitete Professor Johann Tomforde für seinen damaligen Arbeitgeber Daimler an einem Stadtauto. Zwei Sitze, Elektroantrieb, zweieinhalb Meter Länge, das war die Grundidee zu einem Auto, das bewusst als Ergänzung zum bis heute gängigen Universalauto gedacht war und Ende der neunziger Jahre dann als "Smart" in Produktion ging. "Wir waren damals mit unseren Mobilitätsideen zu früh", erinnert sich Tomforde. Die Technik für den Elektroantrieb war nicht reif genug, die Batterien noch schwachbrüstiger als heute, an mobiles Internet nicht zu denken. "Entscheidend aber war, dass die Gesellschaft noch nicht reif war", meint Tomforde, heute Gründer und Geschäftsführer des Competence & Design Center for Mobility Innovations. Das habe sich erst in den letzten fünf Jahren geändert.
Wird das Stadtauto gebraucht?
Umstritten ist, ob man überhaupt spezielle Autos für den Stadtverkehr benötigt. "Es gibt gute Gründe dafür, dass Autos so sind, wie sie sind", meint Eichhorn, der in seiner Zeit als Forschungschef von Volkswagen das erste Ein-Liter-Auto verantwortete. So habe sich die Idee, zwei Insassen hintereinander zu setzen, um den Luftwiderstand zu minimieren, nicht durchgesetzt. Überhaupt sei die Frage nach dem Fahrzeugkonzept sekundär, meint Hans-Georg Frischkorn, Mitglied der Geschäftsleitung bei dem auf Elektronik spezialisierten Engineering-Dienstleister ESG. Schließlich ginge es vor allem um neue Funktionen, die durch neue Elektroniksysteme und Software realisiert werden können. So könne zum Beispiel eine elektronische Deichsel die Effizienz des Verkehrs auf Schnell- und Zufahrtsstraßen sehr deutlich erhöhen.
Fragt man Kunden, was sie sich für den Stadtverkehr wünschen, so wird das wendige, spaßmachende Stadtauto genannt, weiß Tomforde aus eigenen Untersuchungen zusammen mit Hochschulen. Gleichzeitig wünsche man sich die bequeme Sitzposition in einem SUV und die Transportkapazität eines Vans. Sein Fazit: "Wenn man wieder mit einem weißen Blatt Papier anfangen würde, könnten Autos und ihre Technikplattformen ganz anders aussehen als heute."
Und doch, allein mit mutigen und kreativen Ansätzen der Fahrzeugtechnik wird das Problem verstopfter Innenstädte nicht zu lösen sein, da waren sich die Experten einig, die an dem Forum teilnahmen. Künftig müsse viel systemorientierter gedacht werden, forderte Prof. Dr. Ulrich Wagner, Vorstandsmitglied des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, gleich in seinem Eingangsstatement. Schon beim Fahrzeug selbst gelte es, unterschiedliche Technologien zu vernetzen. Zudem müsse der Individualverkehr nahtlos in den Gesamtverkehr integriert werden. "Der Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen ist noch nicht bequem genug", so Wagner. Und schließlich stünden Energie- und Verkehrssystem in einer engen Wechselwirkung.
Entlastung der Innenstädte
Schon eine bessere Vernetzung des Fahrzeuges mit der Infrastruktur kann zu einer erheblichen Entlastung führen. Zwischen 30 und 60 Prozent des Verkehrs in Innenstädten entfällt auf Parkplatzsuchverkehr. Frischkorn glaubt, dass man mit intelligenter Technik diesen überflüssigen Verkehr um rund die Hälfte reduzieren kann. Ist der Parkplatz gefunden, könnte ein autonomes Einparken die Kapazitäten von Parkhäusern deutlich erhöhen - schließlich muss kein Platz zum Ein- und Aussteigen mehr vorgehalten werden.
Gar nicht mehr parkende, sondern von wechselnden Nutzern dauernd in Betrieb gehaltene Autos würden Parkhäuser sogar überflüssig machen. Mit dieser Vision gewann der Architekt Jürgen Mayer H. 2010 den ersten Urban Future Award, der von Audi vergeben wird. In erster Näherung heißt die Umsetzung dieser Vision "Carsharing". Das Potenzial ist gewaltig: Einer Frost&Sullivan-Studie zufolge sollen in wenigen Jahren bereits 15 Millionen Menschen in Europa ihr Auto teilen. Wichtig sei aus Kundensicht, so Andreas Leo von Car2go, dass der Zugang "niedrigschwellig" ausgelegt sei. Das bedeutet beispielsweise, daß das Fahrzeug nicht an seinen Ausgangsort zurückgebracht werden müsse. Als erster Anbieter hat die Daimler-Tochter 2009 dieses "Free Floating"-Modell in Ulm getestet, mittlerweile ist Car2go in 23 Städten aktiv. Bis 2016 soll diese Zahl auf etwa 50 steigen, also mehr als verdoppelt werden. Selbst den asiatisch-pazifischen Raum schaut man sich an, auch wenn dort der Besitz eines großen und teuren Autos vielfach noch als Statussymbol dient. Valide Daten dazu, ob ein in Europa erdachtes Carsharing-Modell in dieser Region funktionieren könnte, gibt es noch nicht. Erste Erkenntnisse aber, so Leo, deuten darauf hin, dass Entwicklungsschritte sich nicht zwangsläufig in derselben Abfolge wie im industrialisierten Westen ergeben müssten.
Standen sich früher Autolobby und die Verfechter des öffentlichen Nahverkehrs oft unversöhnlich gegenüber, so sind die Fronten längst aufgeweicht. "Diese Diskussion ist hinfällig - intelligenter Verkehr verknüpft zunehmend individuelle und öffentliche Verkehrskonzepte", so Frischkorn. Problematisch sind heutzutage ganz andere Themen: Die Daten, die für einen reibungslosen Übergang von einem Verkehrsträger zum anderen benötigt werden, fehlen oft oder sind nicht hinreichend zuverlässig. Die Automobilindustrie hat andere Anforderungen an die Datenqualität als andere Branchen. Technische Hürden, etwa standardisierte Schnittstellen, sind aber nicht die einzigen Probleme, manche sind hausgemacht: Offene Systemarchitekturen würden die Vernetzung fördern, sind jedoch Mangelware. Die Automobilhersteller müssen hier an einem Strang ziehen, um das volle Potenzial vernetzter Dienste abschöpfen zu können, so Frischkorn. Manche überschätzen das Differenzierungspotenzial, das sich aus der Vernetzung ergebe.
Dennoch investiert Daimler auch hier. Mit der App "Moovel" ist der Autohersteller als erster zu einem Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen geworden.
Das Auto als Teil des Energiesystems
Noch komplexer wird es, wenn Verkehrs- und Energiesystem miteinander vernetzt werden sollen, egal ob die Autos mit Strom, Wasserstoff oder Erdgas fahren. "Wir kombinieren dabei große Probleme in beiden Systemen", meint Wagner, der seit langem die renommierte Forschungsstelle für Energiewirtschaft in München leitet. Bei der Lösungsfindung leistet interdisziplinäre- Systemanalyse wichtige Dienste. "Trial and Error können wir uns im Energie- und Verkehrssystem nicht leisten", so Wagner.
Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass Elektroautos für Innenstädte eine gute Lösung sein können, weil sie lokal emissionsfrei sind und mit den relativ geringen Distanzen zurechtkommen. Am DLR werden auf der Forschungsplattform "Next Generation Car" zudem alternative Antriebe und die Möglichkeiten getestet, die ein flexibler elektrischer Antrieb für das (teil-)automatisierte Fahren bietet. Das autonome Fahren wird zunächst nur für automatisches Rangieren und Einparken zum Einsatz kommen, erst im kommenden Jahrzehnt wird es auch tauglich für die komplexen Verkehrssituationen in Innenstädten sein. "Wir sehen solche Technologien eher bei relativ monotonen Fahrten, zum Beispiel auf der Autobahn", sagt denn auch Eichhorn.
Ist das Denken in Systemen in den Köpfen der Automanager angekommen? Dazu herrschen bei den Experten durchaus unterschiedliche Ansichten. "Die Hersteller denken noch viel zu viel in Produkten, nicht genug in systemischen Mobilitätslösungen", meint Tomforde. Eichhorn hingegen ist optimistisch: "Es finden sich heute viele Ansätze für multioptionalen und multimodalen Verkehr". Der Rest ergibt sich, so sein Fazit, wenn man in die Kräfte der Marktwirtschaft und die Kreativität der Menschen vertraut.