P&A:
Was bringt integriertes Engineering einem Anlagenbetreiber aus der Prozessindustrie, Herr Herweck?
Peter Herweck, Siemens:
Es geht immer um Produktivität und zwar nicht erst nach dem Site Acceptance Test. Integriertes Engineering greift bereits vorher: sobald die Entscheidung zum Bau einer Anlage gefallen ist. Wer die folgenden Prozesse bis zur Inbetriebnahme parallelisiert, wird viel früher produzieren, also schneller Geld verdienen. Die Möglichkeiten, Anlagen virtuell zu testen, wirken zusätzlich als Beschleuniger. Das auch bei späteren Umbauten: Tests in der virtuellen Anlage bringen die Sicherheit, die eigentliche Implementierung während einer sehr kurzen Wartungsabschaltung oder sogar während des Betriebs bewerkstelligen zu können.
Dafür muss es ja aber erst einmal ein digitales Anlagenmodell geben. Betrifft das, was Sie hier skizzieren, also nicht eher Greenfield-Anlagen, wie sie in Europa kaum noch entstehen?
Für Konti-Anlagen in der Petrochemie gilt das vielleicht. Eine Joghurt-Produktion jedoch läuft nicht 20 Jahre mehr oder weniger unverändert. Aber auch die großen monolithischen Anlagen kann man optimieren, indem man rückwirkend aus einer bestehenden Anlage den Digital Twin erzeugt. Das ist zwar mehr Aufwand als bei einem Greenfield-Neuansatz, aber dennoch häufig sinnvoll. Es gibt Chemie-Konzerne, die über 100 Anlagen zusammengekauft haben – und diese wohl nicht bis ins Detail kennen. Es gilt dann, Kenntnisse über eine bestehende Anlage - oft ohne aktuelle Pläne - zu gewinnen und die Daten dann in das Engineering-System, in das Piping and Instrumentation Diagram (P&ID) zu übertragen. Wir bieten dazu die entsprechenden Support-Werkzeuge.
Lohnt sich dieser Aufwand?
Der ist tatsächlich nicht ohne. Doch auf der anderen Seite stehen die erzielbaren Einsparungen, die Automatisierungsexperten aus der Chemie, wie zum Beispiel Dr. Tauchnitz von Sanofi Aventis, auf mindestens 20 Prozent im Engineering beziffern.
Integriertes Engineering beruht bei Siemens auf dem Zusammenspiel der Anlagenplanungs-Software Comos und des Prozessleitsystems PCS7, idealerweise im Paket. Viele der Anwender in der Chemie dagegen hätten gerne die Freiheit zu variieren. Geht das?
Es muss nicht notwendigerweise alles von uns sein. Auch wenn wir das natürlich gerne sehen. Der Anwender kann sich so, neben den Standard-Features, noch etliche Extras leicht erschließen. Aber keiner ist darauf festgelegt, beides gleichzeitig einzusetzen. PCS7 kann auch mit Aveva- und Bentley-Software zusammenarbeiten. Wenn wir jedoch das Anlagendesign und die Automatisierung für den Kunden machen, dann auf Comos. Bei all unseren Ingenieuren ist das im Einsatz, ebenso wie in allen unseren Entwicklungen Teamcenter und NX standardisiert sind. Diese Plattformen ziehen wir an allen Siemens-Standorten weltweit durch.
Digitalisierung gilt als Basis für Industrie 4.0. Welche Rolle spielt die Sensorik dabei?
Da dezentrale Intelligenz gebraucht wird, wächst ihre Bedeutung. Modularisierung kann hier vorteilhaft sein. Manche sagen, der standardisierte Schaltschrank, in den die Hardware zu einem späten Zeitpunkt variabel integriert werden kann, ist die Zukunft. Es wird sich zeigen, ob es das am Ende tatsächlich ist. Irgendwann kommt der Einkauf dazu und ob der bereit ist, für die Flexibilität zu zahlen? Wir werden sehen. Auf jeden Fall wird künftig die gesamte Intelligenz nicht mehr allein im Leitsystem sitzen, sondern verteilt: auf Controller, I/O-Boards und Feldgeräte. Multivariable Sensoren werden aus der Kombination von Messwerten wesentlich tiefere Einblicke in die Prozesse ermöglichen. Damit erzeugen sie ein besseres und realistischeres, zeitnäheres Abbild davon, was in einer Anlage passiert, und ermöglichen den Prozess besser zu fahren. Damit wird natürlich alles komplexer. Die Kunst ist, diese Komplexität dennoch kostengünstig anzubieten. Denn leider zählt noch nicht überall die TCO. Wir müssen auch dort, wo das nicht so ist, wettbewerbsfähig anbieten können.
Sprich, auch wenn nur die aktuellen Investitionskosten im Vordergrund stehen. Worauf kommt es in diesem Fall an?
Es zählt dann eben nicht, alles absolut flexibel und komplett anbieten zu können. Sondern genau das, was gebraucht wird. Also vielleicht schlichtweg das Feldgerät mit zwei Kabeln und nicht mehr.
Wie sehen Sie Ihr Prozessinstrumentierungsangebot? Sind Sie gut gerüstet?
Es gibt noch zwei oder drei größere Anbieter als uns, da verrate ich kein Geheimnis. Aber wir haben uns entschieden, Komplettanbieter in der Prozessinstrumentierung zu sein. Bei einigen Schlüsselapplikationen sind wir bereits ganz vorne mit dabei. In anderen, etwa in der Öl & Gas-Branche, sind wir noch nicht so weit, weil wir noch nicht alle Zulassungen für sämtliche Geräte haben. Wichtig aber ist: Die Prozessinstrumentierung ist und bleibt für uns Investitionsgebiet, also von höchster Bedeutung, zusammen mit integriertem Engineering, Prozessautomatisierung, Analytik und Antriebstechnik.
Sind Sie zufrieden damit, wie sich das Unternehmensprojekt Prozessindustrie nun in Form der neuen Division Process Industries and Drives entwickelt?
Das Projekt hat zum einen nicht die Zyklizität im Öl-und-Gas-Geschäft antizipiert. Und auch bei den Basismaterialien ist die Entwicklung schlechter, als wir uns das gewünscht haben. Trotzdem sind wir vernünftig unterwegs. Wir haben uns im Rahmen dieses Projekts Themen vorgenommen, wo wir stärker werden wollen. Das braucht Zeit, doch wir arbeiten daran: mit dem Fokus auf Automatisierung und Instrumentierung. Das Thema Digitalisierung werden wir weiter nach vorne treiben. Bei der Antriebstechnik sind wir schon weit. Selbst eine geniale Erfindung wie den Motor kann man noch einmal komplett neu erfinden.
Kann – oder muss – man PCS7, Ihr Leitsystem, auch nochmal neu erfinden?
Die Entwicklung geht iterativ vor sich. Doch immerhin hat die Version 8.1 über 70 neue Features. Und auf der Hannover Messe und der Achema werden wir noch einige nachlegen. Unsere großen Kunden in Konti-Anlagen sagen uns: In der Funktionalität sind wir vorne mit dabei. Künftig geht es um die installierte Basis. Wir wollen weiterhin der vertrauenswürdige Partner sein wie bisher, denn die aktuellen Kunden brauchen uns auch in zwanzig Jahren noch.