Nein, sein Auto hat Patrick Schnell dann doch nicht verkauft. Aber immerhin, zwei Wochen lang ließ er es links liegen. In dieser Zeit bediente sich der 24-jährige ausschließlich des Mobilpasses des Verkehrs- und Tarifverbundes Stuttgart. Mit der Scheckkarte, die derzeit von gut 2000 Personen genutzt wird, stand Patrick Schnell das gesamte Angebot des öffentlichen Nahverkehrs in der Region zur Verfügung – plus der Car-Sharing-Angebote von Car2go, Flinkster und Stadtmobil sowie der Leihfahrräder von Call a Bike.
Restlos begeistert war der Projektleiter einer Unternehmensberatung am Ende des Experiments zwar nicht – aber immerhin positiv überrascht. Vor allem beim Blick ins eigene Portemonnaie: 646 Kilometer legte er in 12 Tagen zurück, für die Nutzung der Mobilpass-Angebote zahlte er 170 Euro. Mit seinem eigenen Auto hätte er doppelt so viel ausgegeben, gab er zu Protokoll.
Ein Einzelfall, der Schule machen soll. In der Schwabenmetropole werkeln derzeit fast zwei Dutzend Unternehmen an der nächsten Generation des Mobilpasses, der so genannten Stuttgart Service Card. Sie soll Bürgern den unkomplizierten Zugang zur Elektromobilität und zu anderen städtischen Angeboten ermöglichen, mit nur einer Anmeldung. Eine Kombination aus elektronischem Fahrschein für den ÖPNV, Schlüssel für elektrisch betriebene Leihautos und -fahrräder und Ausweis für Bibliotheken und Schwimmbädern inklusive Bezahl- und Bonusfunktionen. Eine Karte für alle Fälle. 25 Millionen Euro dürfte das bis Ende 2015 laufende Projekt insgesamt kosten. 9,5 Millionen Euro stammen aus der Kasse des Bundeswirtschaftsministeriums, die das Unterfangen im Rahmen des bundesweiten Programms „Schaufenster Elektromobilität“ fördert
Multimodal und elektrisch
In Stuttgart, in einem Talkessel mit wenigen Verkehrsschlagadern gelegen, wird es nicht nur in den Hauptverkehrszeiten auf den Straßen eng. Staus sind Alltag, der Nahverkehr arbeitet an der Belastungsgrenze, gleichzeitig steigt das Umweltbewusstsein der Anwohner. Zügig, bequem, kostengünstig und umweltfreundlich wünscht sich der moderne Städter seinen Verkehr. Und genau dieser Mix an widerstreitenden Ziele und individuellen Wünschen bereitet Städte- und Verkehrsplanern Kopfzerbrechen. „Multimodalität“ könnte Abhilfe schaffen, so die Hoffnung.
Die Idee: Menschen sollten situativ unterschiedliche Verkehrsmittel nutzen. Mal Straßenbahn und Bus, mal Auto und Leihfahrrad, je nach Bedarf und Verkehrslage. Allesamt vornehmlich elektrisch betrieben, um keine lokalen Emissionen zu verursachen. Womit man bei den Projektzielen der Stuttgart Service Card angelangt ist: die Attraktivität elektromobiler Angebote im Individualverkehr und im ÖPNV steigern; den Zugang, die Nutzung sowie die Abrechnung so einfach wie möglich zu gestalten und die Elektromobilität als Bestandteil des täglichen Lebens möglichst vieler Menschen verankern.
Jörn Meier-Berberich nickt zustimmend, wenn er das hört. Er ist einer der prägenden Köpfe der Stuttgart Service Card. Der 49-jährige ist kaufmännischer Vorstand der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), die das Projekt als Konsortialführerin leitet: „Insbesondere für die jüngere Generation gilt verstärkt das Motto ‚Nutzen statt Besitzen‘, und gerade im städtischen Umfeld entwickelt sich die Elektromobilität weiter“, sagt er. Der Trend gehe eindeutig zu multimodalen Mobilitäts- und Service-Providern, die übergreifende Konzepte anbieten.
Das Projekt komme gut voran, sagt er, im Januar sei wie geplant ein weiterer Meilenstein erreicht worden. Für die SSB steht einiges auf dem Spiel. 10 Millionen Euro steckt das Unternehmen in das Projekt, das muss sich irgendwann rechnen. „Das wird es auch“, ist Meier-Berberich überzeugt. Bis Ende dieses Jahres sollen mindestens 20.000 Menschen den Mobilpass nutzen, so lautet ein Zwischenziel – allesamt Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Service Card attraktiv finden dürften. In der Schlussphase des Projektes, also gegen Ende des Jahres 2015, sollen bis zu 200.000 Menschen den „Schlüssel zur Elektromobilität“ in der Tasche haben.
Leichtfüßige Lösung
Die Ziele sind ehrgeizig, und für den Bürger soll selbstredend alles ganz unkompliziert sein. Herz und Hirn der Stuttgart Service Card wird ein Internet-Portal sein, über das sich Nutzer – daheim am Rechner oder mobil am Smartphone – informieren oder Dienstleistungen buchen und bezahlen. Eine Webseite plus App, auf der alle Verkehrs- und Serviceangebote leicht bedienbar miteinander verknüpft sind: Fahrplanauskünfte des ÖPNV, Informationen über die Standorte von Leihautos und -fahrrädern, angereichert durch Echtzeitinformationen über das Verkehrsgeschehen sowie bedarfsgerechte Routenempfehlungen. Eine integrierte, effiziente, leicht zu bedienende Gesamtlösung.
Das klingt gut, aber je leichtfüßiger etwas daher kommen soll, umso größer ist meist die Anstrengung, die dahinter steckt. Bei der Stuttgart Service Card heißen die großen Herausforderungen: Komplexität und Eigeninteresse. 22 Partnerunternehmen, die über je eigene Prozesse, Dateiformate, Schnittstellen und IKT-Systeme verfügen, werden untereinander vernetzt. Das setzt Anpassungswillen und Vertrauen voraus. Vertrauen, dass man sich damit nicht selbst schadet. Dass es den eigenen Interessen und den eigenen Profiterwartungen sogar ausdrücklich dient, zu kooperieren und etwas Souveränität abzugeben.
Ein heikles Unterfangen, zumal manche Teilnehmer, etwa Car-Sharing-Anbieter wie Flinkster oder Car2go, mitunter um dieselben Kunden buhlen. Am Ende muss die Stuttgart Service Card ein Geschäftsmodell bereitstellen, dass für alle Firmen passt.
Das Rückgrat dafür ist eine so genannte B2B-Brokering-Plattform, die – für den Endkunden unsichtbar – den Datenaustausch zwischen den Firmen ermöglicht. Sie ist eines der zentralen Elemente des Projekts, und Michael Schlick, Senior Manager bei Bosch Software Innovations (Bosch SI), weiß das nur allzu gut. Das Software- und Systemhaus ist maßgeblich an der Entwicklung der Plattform beteiligt. „Der technische Aufwand im Hintergrund ist enorm“, sagt Schlick. Wichtig seien die Nutzung bestehender Standards und Normen sowie die Entwicklung neuartiger Schnittstellen. Nur so könne eine Vielzahl von Anbietern vernetzt und unkompliziert zusätzliche Anbieter aufgenommen werden.
„Bei Null starten wir dabei nicht“, sagt Michael Schlick. Für das Gemeinschaftsunternehmen „Hubject“ etwa – Gesellschafter sind BMW, Bosch, Daimler, EnBW, RWE und Siemens – entwickelte Bosch SI die technologische Basis, um unterschiedliche Ladestationsbetreiber, Energieversorger, Flottenbetreiber und Autohersteller miteinander zu verbinden. Oder auch das Projekt „Crome“, das sich um ein standardisiertes, anbieterübergreifendes Ladestationsnetz im französisch-deutschen Grenzgebiet dreht.
Vom Ende her denken
„Immer wieder geht es um sensible Kundendaten“, weiß Michael Schlick. Wo und wie werden Informationen abgefragt? Wie tief sind die Einblicke, die Unternehmen von ihren Wettbewerbern bekommen? Wer schließt mit wem einen Vertrag? Wem „gehören“ letztlich die Daten? Womit sich der Bogen von der Technik bis hin zu juristischen Fragen spannt, etwa wie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen gestaltet sein müssen.
Und auch den Kunden werden diese Themen nicht egal sein, ist Christophe Fondrier überzeugt. Wie Michael Schlick arbeitet er an der Verknüpfung der IKT-Systeme, allerdings auf Seiten des Software-Unternehmens HighQ. „Einerseits muss das Gesamtsystem einfach zu bedienen und sehr verständlich sein“, sagt er. „Andererseits muss es Vertraulichkeit gewährleisten und immun gegen Fälschungen und Betrug sein.“ Nicht jedem Nutzer dürfte es zum Beispiel Recht sein, dass sein Bewegungsprofil gespeichert und ausgewertet wird. Das System muss auf solche Wünsche flexibel und zuverlässig reagieren – und dabei immer reibungslos funktionieren.
Je mehr Nutzer von sich und der Art und Weise, wie sie sich wann wohin bewegen, preisgeben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Stuttgart Service Card ein Erfolg wird. Erst dann wird im System jene kritische Masse aus Informationen entstehen, die es möglich macht, die Anzahl, die Frequenz und den Einsatzort von Bussen, Bahnen, Leihautos und -fahrrädern effizient zu planen. Und erst dann entsteht jene flächendeckende, einfache Verfügbarkeit, die das System seinen Kunden verspricht.
„Letztlich müssen wir die Service Card von diesem Ende her denken“, sagt Christophe Fondrier. Nutzer wollen ja nicht primär Bus oder Auto fahren. „Sie wollen in der Stadt einkaufen, im Freibad schwimmen gehen oder sie haben einen Termin in Rathaus. Sie erwarten vom System eine verlässliche Hilfestellung, wie sie pünktlich und stressfrei an diese Orte kommen.“ Etwas weniger als zwei Jahre noch – dann wird man in Stuttgart testen können, wie gut das in der Realität funktioniert.