Ein fensterloser Raum auf der Versuchsstation des Hohenheimer Universitätsgeländes. An den Wänden stehen Regal-Türme mit drei Etagen voll Wannen, ausgekleidet mit Teichfolie. Darin stehen in Kunststoffkörben aufrecht die 15-20 cm langen Wurzelrüben, aus denen verkaufsfähige Chicorée-Salatknospe innerhalb von drei Wochen wachsen.
Eine Aquariumpumpe umspült die Pflanzen mit einer Nährlösung. Es ist dunkel, damit die Salatblätter in einem gelben Pastellton verbleiben und keine der Chicorée-typischen Bitterstoffe bilden, die den Verzehr beeinträchtigen könnten. Ähnlich wie in dieser Versuchsanlage – nur um ein Vielfaches größer – sieht es bei der kommerziellen Produktion von Chicorée-Salat in sogenannten Wasser-Treibereien aus: Denn die zweijährige Chicorée-Pflanze verbringt nur die ersten fünf Monate auf dem Acker. Mitte Oktober werden die Blätter abgemulcht, die Wurzelrüben geerntet, kühl gelagert und dann in die Treibräume gebracht. Erst dort treiben neue Blattknospen aus, die als Chicorée-Salat genutzt werden.
Doch anders als in der Lebensmittelproduktion interessiert sich die Universität Hohenheim vor allem für den nicht-essbaren Rübenanteil. „Die Wurzelrübe macht ca. 30 Prozent der Pflanze aus. Die eingelagerten Reservekohlenhydrate werden für die Bildung der Salatknospen nicht vollständig aufgebraucht, sodass wertvolle Reservestoffe verbleiben. Die Wurzelrüben können jedoch nur einmal für die Chicorée-Treiberei genutzt werden, fallen nach der Knospenernte als Abfallstoff an und müssen entsorgt werden.“, erklärt Agrarbiologin Dr. Judit Pfenning.
Nylon, Polyester, Perlon oder Kunststoffflaschen
Wie wertvoll diese Wurzelrübe tatsächlich ist, zeigt Prof. Dr. Andrea Kruse wenige Schritte entfernt in einem Labor des Instituts für Agrartechnik. Im Hintergrund stehen Bleistift-große Rohrreaktoren aus Edelstahl, die mit Häckseln der Chicorée-Wurzelrübe und Wasser befüllt werden. Die ultrastabilen Druckbehälter werden mit verdünnter Säure versetzt und bis zu 200 Grad erhitzt. Das wässrige Produkt wird anschließend in weiteren Schritten aufbereitet, die der Geheimhaltung unterliegen.
Am Ende erhält ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Dominik Wüst ein gelb bis braun gefärbtes kristallines Pulver: ungereinigtes Hydroxymethylfurfural (HMF). Es ist eine von zwölf Basischemikalien, die zukünftig in der Kunststoffindustrie verwendet werden. Es dient als Ausgangsstoff für Nylon, Perlon, Polyester oder Kunststoffflaschen – sogenannten PEF-Flaschen im Gegensatz zu den PET-Flaschen. Der Wert im Chemikalien-Großhandel liegt aktuell bei 2000 Euro das Kilogramm.
HMF aus Chicorée als Teil der Bioökonomie
Bisher werden solche Chemikalien aus Erdöl gewonnen. Wie sie sich nachhaltig produzieren lassen, ist eine Fragestellung der Bioökonomie. Denn diese setzt auf Energie und Rohstoffe aus Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen statt weiterhin auf fossile Rohstoffe.
In einem früheren Forschungsprojekt gelang es Prof. Dr. Kruse bereits, die Basischemikalie HMF aus Fruchtzucker – sogenannte Fructose – zu gewinnen. Die Gewinnung aus Chicorée-Wurzelrüben findet sie eleganter. Denn: „Fructose ist essbar. Es gibt bessere Verwendungszwecke als HMF daraus zu gewinnen.“ Anders die Chicorée-Wurzelrübe. „Sie ist bislang nur ein Abfallprodukt.“
Die Herausforderung: Lagerung und Qualität der Wurzelrüben
Eine Herausforderung bei dem Projekt: „Nur wenn wir es schaffen, eine gleichbleibende Qualität zu gewährleisten, ist die Wurzel für die Industrie interessant“, erklärt Prof. Dr. Kruse.
Deshalb kooperiert die technische Chemikerin mit der Pflanzenwissenschaftlerin Dr. Judit Pfenning vom Fachgebiet Allgemeiner Pflanzenbau. „Die Voraussetzungen sind an sich gut“, erklärt Dr. Pfenning. „auch der Verbraucher, der Chicorée essen will, stellt hohe und einheitliche Qualitätsansprüche an die Chicorée-Salatknospen. Deshalb gelangen nur vergleichsweise einheitliche, höherwertige Wurzelrüben vom Acker in die kommerzielle Wasser-Treiberei.“
Ein weiterer Forschungsaspekt: Wie lassen sich die Wurzelrüben lagern, ohne dass sie an Qualität verlieren. Denn die Chicorée-Produktion ist Saisongeschäft. Die Zulieferer der chemischen Industrie wünschen sich aber eine gleichbleibende Lieferung, um ihre Anlagen kontinuierlich auszulasten. „Es ist ein Projekt, das sich nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit umsetzen lässt“, betonen die Wissenschaftlerinnen. Zum einen die Qualitätskontrollen, Anbau- und Lagerungsversuche im Pflanzenbau, zum anderen die Laborexperimente in der Konversionstechnologie.
Hochwertiger als Erdöl
Ein weiterer Aspekt macht das Projekt noch aussichtsreicher: „Die Chicorée-Wurzelrübe eignet sich nicht nur deshalb so gut zur Gewinnung von HMF, weil sie ein Abfallprodukt ist“, betont Prof. Dr. Kruse. „Sie produziert auch eine höherwertige Chemikalie als das Äquivalent aus Erdöl.“ Dadurch könnten PEF-Flaschen aus Chicorée-HMF beispielsweise dünner gezogen werden, als solche aus Erdöl-PET. Das spart Transportkosten und verbessert die Umweltbilanz noch weiter.
Ein Teil des Aufkommens an Chicorée-Wurzelrüben wird heute verwendet, um daraus Biogas zu erzeugen. Doch diese Verwendung sei ökonomisch gesehen unterlegen: „Aus ca. 220.000 Wurzelrüben pro Hektar können theoretisch 8,14 t Inulin gewonnen werden. Das kann nach aktuellem Forschungsstand zu 2,87 Tonnen HMF umgewandelt werden. Über den Verkauf dieser Menge können ca. 5,74 Mio. Euro erzielt werden. Strom aus Biogas dieser Menge Wurzelrüben würde nach EEG jedoch nur rund 21.000 Euro generieren.“