„Das Leben in Brasilien war wunderbar, aber meine Familie und ich fühlen uns in unserem kleinen Dorf bei München unglaublich wohl.“ Und: „Ich bin von Kind auf Technikfan und habe alles zerlegt, was ich in die Hände bekam. Aber wenn es um den Einsatz von technischen Geräten im Privatleben geht, bin ich ein bekennender Late Adopter und liebe es, draußen in der Natur zu sein.“ Und schließlich: „Eigentlich begann mein heutiges Leben mit einem Missverständnis.“ Im Gespräch mit dem Niederländer Lars Eerenstein, seit drei Jahren Senior Vice President für Starkstromkondensatoren (ESTA), Filmkondensatoren und Aluminium-Elektrolyt-Kondensatoren bei Vishay, lösen sich scheinbare Widersprüche so mühelos auf, dass sie einem irgendwann fast selbstverständlich vorkommen.
Eerenstein ist seit insgesamt sechs Jahren für den börsennotierten Vishay-Konzern im Kondensatorenbereich tätig. Die Zentrale seiner drei Divisions liegt im niederbayerischen Landshut. Und obwohl passive Komponenten seit jeher sein Berufsleben bestimmen, hat der Niederländer eigentlich Betriebswirtschaft und Automatisierungstechnik in Eindhoven studiert. Doch dann verschlug es den heute 49-Jährigen dank besagtem Missverständnis zum Berufsstart bei Philips ins interne Consulting und zu den passiven Bauteilen, da seine eigentliche Stelle in der Automatisierung aus Versehen bereits besetzt worden war.
Immer an sich glauben
„So habe ich gleich zum Start auf eine ziemlich harte Weise gelernt, was mich später durch so viele Stationen meines Lebens geleitet hat“, konstatiert der Wirtschaftsingenieur: Flexibel sein und an seine eigenen Fähigkeiten glauben, auch wenn plötzlich etwas völlig Neues vor einem steht. Noch heute denkt er mit schmunzelndem Grauen an seinen ersten Vortrag als Jungingenieur vor hochdekorierten Experten aus seinem neuen Bereich zurück. Jetzt dürfen bitte nur keine falschen Frage kommen, habe er gedacht. Prinzip zwei: Sich einarbeiten, so schnell und intensiv es nur geht. Und Prinzip drei: Chancen wahrnehmen, auch wenn sie scheinbar zum falschen Zeitpunkt kommen, und dabei optimistisch bleiben - denn wer nicht optimistisch ist, wird es auch nicht wagen, freiwillig Neues zu beginnen.
Und Neues begann oft. Zunächst acht Jahre lang. Zum Teil wöchentlich, zum Teil monatlich, da Eerenstein für Optimierungsprojekte durch die Welt geschickt wurde und oft am Werksort für eine Weile lebte. Dann nahm er eine Stelle im Konzern in den Niederlanden an.
Doch kaum war Eerensteins Sohn acht Wochen alt und das Haus in Holland soeben gekauft, kam das Angebot, für Philips als Werksleiter nach Recife umzuziehen, um dort ein Werk für Schicht- und Drahtwiderstände wieder auf rentable Beine zu stellen. Die junge Familie nahm an. Auch seine Frau sei viel im Ausland gewesen und habe bei Philips gearbeitet, erklärt Eerenstein. Ein Leben in einem interessanten Land im Ausland sei für sie alle ein Traum gewesen – der tatsächlich als solcher in Erfüllung ging.
Von Brasilien nach Bayern
Eine glückliche Familie, zwei voll integrierte kleine Kinder – und dann sollte das Werk in Brasilien doch geschlossen werden. Philips verkaufte das komplette Komponentengeschäft an Compass/BCcomponents. Eerenstein: „Wir waren vier Brasilianer und zwei Holländer im Management, und wir haben ein Management-Buy-Out vorgeschlagen. Philips hat akzeptiert. Die gefühlt fünfzigste Bank bewilligte endlich einen Kredit.
„Dann begann eine verrückte Zeit. Wir mussten den Vertrieb komplett neu aufbauen. Ich wusste danach gar nicht, als Vishay uns nach sechs Jahren kaufen wollte, ob ich überhaupt noch in eine Konzernstruktur integrierbar bin“, lacht er. Der Optimist nahm an. Er zog mit seiner Familie nach in die bayerische Landeshauptstadt München, von wo aus er seine damaligen Werke in Israel und den USA gut erreichen konnte, und wo sein heutiges Leben begann.
International geprägt
Von dem niederländischen, damals wahrhaftigen Weltkonzern Philips war er schon aus Großvaters Zeiten geprägt. Auch sein Vater arbeitete bei Philips als Manager im Ausland, und Eerenstein wuchs vorwiegend in Spanien auf. Heute leitet er selbst mehrere Divisionen eines amerikanischen Global Players, für den er für sechs Werke in fünf Ländern – Tschechien, Indien, Niederlande, Portugal, Österreich – zuzüglich Zentrale in Bayern verantwortlich zeichnet.
Wie kann das gut gehen? Wie kann ein Manager in solch unterschiedlichen Kulturen erfolgreich sein? „Letztlich erwarten die Mitarbeiter überall auf der Welt dasselbe von ihren Managern“, so Eerenstein. „Wenn man das verstanden hat und sich für sie interessiert, geht es fast überall gut. Man muss informieren und kommunizieren. Man muss es nur, jeweils kulturell passend, etwas anders verpacken. Dann macht die Arbeit in einem solchen Umfeld sehr viel Freude.“
Ein Meeting mit neun Nationen bei zehn Teilnehmern, das sei nichts Ungewöhnliches im multinationalen Vishay-Konzern mit amerikanischen Wurzeln, deutschem CEO, 28 akquirierten Unternehmen in den vergangenen dreißig Jahren – darunter Roederstein und Telefunken in Deutschland – und Produktionsstätten in siebzehn Ländern weltweit.
Regionale oder nationale Befindlichkeiten und Ängste sind dem seit jeher global aktiven Manager mit Verantwortung für rund 1.500 Mitarbeiter gänzlich fremd: „Das Werk in Tschechien zum Beispiel war eine wunderbare Entscheidung, auch wenn das Werk bei Landshut zuvor leider geschlossen werden musste. Die Kultur ist uns nah, der Weg kurz.“ Nur nach Asien zog es ihn bislang nicht allzu sehr. Nun allerdings steht Asien doch noch im Zentrum seiner Bemühungen, denn das aktuell große Projekt der Vishay ESTA ist die verstärkte Marktdurchdringung in Asien: „Im Westen sind wir Marktführer in unseren Kernbereichen. Wenn wir wachsen wollen, dann in Asien.“ Sein Team verstärkt derzeit den Vertrieb, prüft die Möglichkeiten und strategischen Optionen.
Wachstum durch Individualität
Wachstumschancen sieht er für die Film-Kondensatoren vor allen Dingen bei individuelleren Lösungen. „So billig wie die Chinesen können wir bei einfachen Bauteilen von der Stange nie sein“, so Eerenstein. „Wir haben bei Schichtkondensatoren durch die zahlreichen Firmenzukäufe von Vishay zum Teil ein veraltetes Produktportfolio, zu viel Fernseher und Co. Das zieht nicht mehr.“ Bei den Schichttechnologien sei heute zum Beispiel die Solarbranche interessant.
Ein weiterer Fokusbereich sei das Automotive-Segment, zudem werde E-Mobility mittelfristig zünden. „Ob 2016, 2017 oder noch später, das hängt leider von sehr vielen Rahmenbedingungen ab.“ Generell gelte das Thema der Branche natürlich auch für seinen Geschäftsbereich: Mehr Energiekapazität bei gleichem Volumen und weniger Gewicht. Auch im Energiebereich entstehen viele interessante Anwendungen, vor allem in Asien. So setze sein Team besondere Hoffnung für die Komponenten der Vishay ESTA auf Windanlagen oder Stromversorgung in China.
Globale Trends erkennen. Ein Auge auf die Schnittstelle zwischen dem Marketing und Produktmanagement in seinen Divisions und dem konzernweit organisierten Vertrieb halten. Abwägen von Rahmenbedingungen. Entscheidungen treffen und kommunizieren. Mitarbeiter- und Teamführung. Budgetverhandlungen im Mutterkonzern, in dem die Divisions strikt als Profit-Center geführt werden. Eerenstein versichert, es gehe ihm dank des – wie er findet –„typisch deutschen ‚Management by objectives‘- Führungsstils" gut mit seiner Entscheidung, das aufregende Leben und die Selbständigkeit in Brasilien aufgegeben zu haben. „Ich hatte das Glück, bei Vishay wieder auf eine Unternehmenskultur mit vielen Freiheiten zu treffen. Wir bekommen zwar Zielvorgaben und verhandeln um Investitionsbudgets. Im Übrigen genießen wir aber große Freiheit bei der Wahl der Wege.“
Bewegung muss sein
Nur eines liebt er an seinem Job nicht, und es klingt nicht nach einem Scherz, wenn er auf diese Frage antwortet: „Wir Manager sitzen alle zu viel – sei es im Büro, im Meeting, im Flugzeug oder im Auto.“ Deshalb gleicht er dies, wann immer möglich, in der Freizeit aus, mit Mountainbiken, Snowboarden, Motorradfahren. „Bewegung ist eine der schönsten Dinge im Leben.“ Sein großes privates Ziel? Er lacht: „Die 11-Städte-Tour in Holland. 200 km auf Schlittschuhen über das Eis rasen. Endlich einmal offiziell mitlaufen und die kleine Medaille dafür bekommen.“
Die letzten beiden Male, 1986 und 1997, sei er schon komplett mitgefahren. Aber nur inoffiziell, für einen offiziellen Startplatz war er leider nicht ausgelost. Vater und Großvater sind bereits Medaillenträger. Nun muss nur der nächste eiskalte Winter kommen. Und Lars Eerenstein darf dann nicht schon nach Asien weitergezogen sein. Hier wehrt er aber ab: Ein Expatrioten-Dasein sieht er nicht unbedingt als das nächste Ziel für sich und seine Familie. Ein Holländer in Bayern zu sein, das dagegen sei eine gute Sache, die er sich auch für den Rest seines Lebens vorstellen könne.