Prozessautomation Licht an neuen Ufern

17.04.2013

Der Leuchtturm gibt Sicherheit und weist den Weg - auch bei unruhigem Fahrwasser. Nichts Geringeres als größte Zuverlässigkeit erwartet auch Merck Sorono bei seiner Biotech-Produktion. Am Genfer See hat der Pharmahersteller eine integrierte und hoch automatisierte World-Scale-Anlage erbaut. Die Zusammenarbeit mit einem Leitsystem-Experten hat die GAMP5-Produktion zu einem Leuchtturmprojekt der Automatisierung gemacht.

Selbst die größten Pharmakonzerne geben selten 400 Mio. Euro für ein Projekt aus. Diese Summe nahm Merck Serono für die Erweiterung der biotechnologischen Produktion in Corsier-sur-Vevey am Genfer See in die Hand: eine Herausforderung auch für die Automatisierung. Mehr als ein Dutzend Hardware-Lieferanten und 14 spezifische Softwarelösungen für die Steuerung einzelner Komponenten des komplexen Anlagengefüges galt es in das Prozess- und Produktionsleitsystem zu integrieren. Nachdem das Projekt Ende 2010 technisch abgeschlossen wurde, hat nach Inbetriebnahme, cGMP (Current Good Manufacturing Practice)-Validierung und Freigabe durch die Behörden inzwischen die kommerzielle Produktion begonnen. Mit der Komplett-Automatisierung des Large-Scale-Biotech-Projekts wurde Yokogawa Deutschland betraut. Es war das europaweit größte Pharmaprojekt für die Ratinger Niederlassung und den japanischen Mutterkonzern des Automatisierungspartners. Im Rahmen des Erweiterungsprojekts wurden in Vevey auf einer umbauten Produktionsfläche von rund 10.000 m² etwa 120.000 Liter Bioreaktor-Kapazität geschaffen, zudem Lager-, Ver- und Entsorgungseinrichtungen. Die Produktionseinheit ist neben acht zentralen Bioreaktoren mit zwei Aufarbeitungslinien ausgestattet - und mit dem Leitsystem vom Typ Centum VP 4.02. Es verwaltet rund 12.000 E/A-Kanäle, 2.300 Foundation-Fieldbus-Geräte, 6.500 Ventile, die über Festo remote I/O und Profibus angesteuert werden, ferner 240 Motor Control Centers (MCC, ebenfalls via Profibus) sowie rund 200 4-20-mA-Geräte. Dazu verfügt das Leitsystem über 101 prozessnahe Komponenten (PNK), sechs Engineering- und rund 40 Bedienstationen. Zur Steuerung der chargenweise ablaufenden Produktion wird das VP-Batch-Paket von Yokogawa eingesetzt, das eng mit dem MES (Manufacturing Execution System) zusammenarbeitet. Insgesamt werden in der Anlage rund 60 Rezepte mit jeweils bis zu 800 Parametern sowie 250 Teilprozeduren und 420 Master-Phasen verwaltet. Dabei bildet das Exaquantum-Batch-Betriebsinformationssystem (PIMS, Plant Information Management System) eine wichtige Brücke zwischen Leitsystem und MES. Die vertikale Integration stellt sicher, dass Material-, Prozess- und Qualitätsmanagement Hand in Hand gehen. Der Zugriff auf Electronic Batch Record (EBR) und Standard Operation Procedures (SOP) unmittelbar im Produktionsbereich erlaubt dem Bedienpersonal jederzeit die optimale Interaktion mit dem Prozess. Prozeduren, etwa der CIP-Manager (Cleaning in Place), wurden mit Hilfe von SFCs (Sequential Function Charts) konfiguriert. Zusätzlich wurde in Vevey ein Plant Asset Management System (Plant Resource Manager, PRM 3.04) installiert, um Diagnosedaten aus dem Feld systematisch zu erfassen. Schon bei der Inbetriebnahme ist PRM zur Überprüfung etwa von Regelkreisen und Ventilparametern sehr hilfreich gewesen. Seine Daten werden jetzt im Dienste der vorausschauenden Wartung und des effizienten Personaleinsatzes genutzt, um eine hohe Anlagenverfügbarkeit zu gewährleisten.

Komplexität managen unter GAMP5

Rund 120 Systemkomponenten, darunter 15 Package Units verschiedener Lieferanten, mussten im Laufe des Projekts automatisierungstechnisch im Leitsystem zusammengefasst werden. „Das bedeutete zahlreiche Lastenhefte, viele Factory Acceptance Tests bei den Lieferanten und eine Unzahl von Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der Einzelsysteme, die es zu berücksichtigen galt“, erläutert Markus Trompetter, Executive Project Sponsor von Yokogawa. Schon deshalb waren zeitweise mehr als 50 Spezialisten des Unternehmens in Vevey bei der Arbeit. „Unsere Niederlassung in Muttenz sowie unsere Service-Büros in Vaulruz haben sich als regionale Stützpunkte sehr bewährt“, sagt Trompetter. Das gilt auch jetzt in der Betriebsphase, nachdem Merck Serono ein Lebenszyklus-Serviceabkommen für die Anlage mit Yokogawa geschlossen hat. „Schneller und zuverlässiger Service erfordert räumliche Nähe“, meint Trompetter. Diesem Konzept folgt der Automatisierungspartner seit Jahren auch an anderen Großstandorten. Eine besondere Herausforderung des Large-Scale-Biotech-Projekts lag in der Abwicklung unter GAMP5 (Good Automated Manufacturing Practice). Das Vorgehen entsprach dem „V-Modell“: Spezifikation, Konstruktion, Implementierung, Test und Abnahme (siehe Abbildung oben). Die Verifizierung sowie Testresultate inklusive der Installations- und operationalen Qualifikation (IQ/OQ) ergeben objektive Indikatoren für die Erfüllung der Projektanforderungen. Das Vorgehen entspricht zugleich den in 21CFR Part 11 bzw. den cGMP-Richtlinien niedergelegten Anforderungen der FDA. Zur Validierung der Automatisierungstechnik (CSV, Computerized Systems Validation) wurde Yokogawa Mitte 2009 von Merck Serono erfolgreich auditiert. Ziel der umfassenden Automatisierung aus einer Hand war es - entsprechend dem E-Plant-Konzept von Merck Serono - einen hohen Gesamt-Automatisierungsgrad der integrierten Produktion zu erreichen, um so der Quality-by-Design-Anforderung der Aufsichtsbehörden optimal zu entsprechen. „Umfassende, integrierte Automatisierung vom Labor- bis in den Produktionsmaßstab ist unser Ziel in Vevey“, betont Nicholas Martin Clement, E-Plant-Manager Merck Serono. So lasse sich eine hoch effiziente und zugleich umweltverträgliche Produktion sicherstellen. Die Basis dafür bildet eine umfassende und zeitnahe Information der Betriebsmannschaft über alle wesentlichen Einzelheiten des Produktionsprozesses.

Automatisierungskonzept voll umgesetzt

Bei diesem Biotech-Projekt konnte Yokogawa nahezu alle Aspekte des VigilantPlant-Automatisierungskonzepts in der biopharmazeutischen Großproduktion unter GAMP5 umsetzen. „Angesichts der hohen Projektkomplexität mit vielen Lieferanten, Komponenten und Steuerungskonzepten hat sich nicht nur unsere Technik, sondern auch unser Projektmanagement bewährt. Der Schlüssel zum Erfolg war nicht zuletzt ein professionelles Change-Management aller Beteiligten“, erklärt Trompetter. Auch Merck Serono ist zufrieden. „In den Anlagen laufen komplexe Batch-Prozesse ab, die noch dazu sehr flexibel handhabbar sein müssen. Angesichts dieser Komplexität und des großen Produktionsmaßstabs war es nur folgerichtig, einen leistungsfähigen und erfahrenen Partner zu wählen, der sowohl Prozessautomatisierung als auch Softwareentwicklung beherrscht“, betont Dr. André Overmeyer, Projektleiter bei Merck Serono, und ergänzt: „Das Centum VP-System integriert in vorbildlicher Weise die Steuerungen all unserer vielen Anlagenkomponenten und hat sich als hochgradig zuverlässig erwiesen.“

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