Wohlergehen statt Wachstum Maßnahmen für Nachhaltigkeit müssen ineinandergreifen

Als Haupthindernis für die Transformation der Versorgungssysteme sehen die Befragten das Leitbild des Wirtschaftswachstums. Doch wenn das Gemeinwohl zum Leitbild wird, sehen die Befragten darin auch eine Chance für eine kohärentere Nachhaltigkeitspolitik.

Bild: iStock, Rowan Jordan
07.08.2024

Gute Lebensqualität bei geringem Ressourcenverbrauch: Was so einfach klingt, ist eine große Herausforderung. Auch die Europäische Union sucht nach neuen Wegen, ihren Bürgerinnen und Bürgern einen attraktiven Lebensstil zu ermöglichen, ohne die Umwelt übermäßig zu belasten. Eine Studie in fünf EU-Ländern kommt zu einem zentralen Ergebnis: Nicht Wirtschaftswachstum, sondern Bedürfnisbefriedigung sollte das Leitbild für die Neugestaltung der Versorgungssysteme sein.

„Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssen wir die derzeitigen Produktions- und Konsummuster in den vier zentralen Versorgungssystemen Ernährung, Mobilität, Wohnen und Freizeit ändern. Wir wollten herausfinden, welche gesellschaftlichen Strukturen den Wandel am meisten behindern. Deshalb haben wir in fünf EU-Ländern – Deutschland, Lettland, Schweden, Spanien und Ungarn – Interviews mit Expertinnen und Experten geführt und in Denklaboren mit lokalen Interessenvertreterinnen und -vertretern aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Thinktanks diskutiert“, sagt Erstautorin Halliki Kreinin (Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit – Helmholtz-Zentrum Potsdam, RIFS). Die Arbeit entstand in dem Projektkonsortium „EU 1,5° Lebensstile“, das vom RIFS koordiniert wird.

Als wichtigstes Hindernis für die Transformation der Versorgungssysteme sahen die Befragten das Leitbild des Wirtschaftswachstums an. Dieses ist nach ihrer Ansicht so wirkmächtig, dass Akteure in allen Gesellschaftsbereichen es undifferenziert als Handlungsziel übernommen haben. Mit Veränderungen hin zur Nachhaltigkeit steht es allerdings häufig im Konflikt. Als alternatives Leitbild kann die Befriedigung von Bedürfnissen und das Wohlergehen aller dienen. Dazu gehört es auch zu akzeptieren, dass einige schädliche Industrien und Technologien verschwinden.

Klima- und Wirtschaftspolitik im Konflikt

Wenn das allgemeine Wohlergehen zum Leitbild wird, ist dies laut den Befragten auch eine Chance, eine konsistentere Nachhaltigkeitspolitik zu betreiben. Viele erachten in einigen Bereichen auch Verbote, Grenzwerte und Steuern als notwendig. „Ein wichtiger Schritt wäre schon geschafft, wenn der Erwerb und die Nutzung von extrem umweltverschmutzenden Waren und Dienstleistungen wie Privatjets, privater Raumfahrt oder Geländewagen eingeschränkt oder mit starken finanziellen Negativanreizen belegt würde. Es kann aber nicht bei lauter einzelnen Maßnahmen bleiben, sondern diese müssen besser ineinandergreifen. Zurzeit stehen Klima- und Wirtschaftspolitik häufig im Konflikt miteinander“, sagt Doris Fuchs, RIFS-Direktorin und Ko-Autorin der Studie.

Um eine kohärente Nachhaltigkeitspolitik durchzusetzen, müssten die Regierungen den Einfluss mächtiger Interessengruppen wie der fossilen Industrie eindämmen. Sinnvoll seien auch wirtschaftliche Anreize für Investitionen in nachhaltige Technologien und Produkte sowie die Berücksichtigung von Umweltkosten bei den Preisen, zum Beispiel durch niedrigere Steuern auf Arbeit und höhere Steuern auf Energieverbrauch.

Gesellschaftliche Ungleichheit behindert den Wandel

Neben diesen harten Maßnahmen nannten die Befragten auch weiche Faktoren wie die Stärkung von alternativen Narrativen und Indikatoren eines guten Lebens. Immer wieder kam in den Denklaboren zudem das Problem der Ungleichheit zur Sprache. Ärmere Bevölkerungsgruppen seien am meisten vom Klimawandel betroffen, hätten aber gleichzeitig zu wenig Ressourcen, um sich zu engagieren. Die Politik müsse ihnen mehr Teilhabe ermöglichen. Dazu gehöre auch die Integration von Nachhaltigkeitsthemen in die Lehrpläne und die schulische Ausbildung.

In allen fünf Ländern machten die Befragten deutlich, dass ein umfassender Strukturwandel notwendig sei, fasst Halliki Kreinin zusammen: „Wir können den Kampf gegen den Klimawandel nicht den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern überlassen, sondern müssen die Versorgungssysteme grundlegend ändern. Derzeit können sie bei zu hohem Ressourcenverbrauch keine Bedürfnisbefriedigung gewährleisten.“ Notwendig sei eine umfassende Transformation mit aufeinander abgestimmten strategischen Maßnahmen.

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