Allein in Deutschland werden jährlich Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen, die noch essbar wären. Abhängig vom Produkt geht durch Überproduktion und Ausschuss ein Teil der Lebensmittelverluste und -verschwendung auf den Herstellungsprozess zurück.
Wie sich das mithilfe digitaler Vernetzung und Künstlicher Intelligenz ändern lässt, erforscht das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BWMi) im Rahmen des KI-Innovationswettbewerbs geförderte Projekt REIF. Das Ziel ist der Aufbau eines KI-Ökosystems, das den Daten- und Informationsaustausch in der Lebensmittelindustrie über alle Wertschöpfungsstufen hinweg optimiert.
„Ein großes Hindernis für einen nachhaltigeren Umgang mit den Gütern aus landwirtschaftlicher Produktion ist bislang die mangelnde Information innerhalb der Wertschöpfungskette von Nahrungsmitteln. Wenn sich beispielsweise die Wünsche und Nachfragen von Verbrauchern ändern, dauert es in der Regel viel zu lange, ehe diese Informationen über den Handel bei Produzenten und noch länger, ehe sie auch bei Erzeugern ankommen“, erklärt Klaus Kaufmann, Senior Manager Collaborative Research Projects, vom REIF-Projektpartner GS1 Germany.
Um solche Informationsmängel auszugleichen, bleibt den Beteiligten der Wertschöpfungskette oft nichts anderes übrig, als auf Bevorratung beziehungsweise Überproduktion zu setzen. In der Konsequenz werden zu große Mengen Lebensmittel erzeugt, gelagert, produziert und gehandelt, sodass am Ende Überschüsse bleiben, die irgendwann vernichtet werden müssen.
GS1 Germany ist neben den Firmen tegut, Software, Hochland, Westfleisch, Spicetech einer von insgesamt 18 Konsortialpartner aus Industrie, Verbänden und Forschung. In acht Teilprojekten werden unterschiedliche Funktionsweisen der REIF-Plattform und der KI-Anwendungen an verschiedenen Stellen der Wertschöpfungskette getestet. Weitere 13 assoziierte Partner unterstützen das Projektvorhaben.
Neutrale Datenplattform für Produzenten und Supermärkte
Mit einem durchgängigen, vernetzten Informationsfluss zwischen Produzenten, Lieferanten und Lebensmittelhändlern könnten sich die Marktteilnehmer enger aufeinander abstimmen und so zusammenwirken, dass Lebensmittelverschwendung minimiert oder im Idealfall auch ganz vermieden wird. Wie aber lässt sich eine solche Interoperabilität für die Nahrungsmittelindustrie herstellen? Das KI-Projekt REIF - „Resourceefficient, Economic and Intelligent Foodchain“ - setzt dafür auf eine neutrale Plattform, auf der Daten und KI-Services gehandelt werden können.
Neutral bedeutet, dass die Plattform sich auf ihre Rolle als Vermittlerin von Daten und Diensten beschränkt. Dadurch ist sichergestellt, dass die Plattform für alle Beteiligten der Wertschöpfungskette offen ist und ihnen dauerhaft Vorteile bietet.
So können sich Landwirte beispielsweise über KI-Services, die entsprechende Daten auswerten und Informationen darüber einholen, welche Hersteller auf dem Markt ein bestimmtes Erzeugnis in welcher Qualität besonders nachfragen. Umgekehrt können Handel und Hersteller ihre Planungen früher als bislang auf Ernteergebnisse abstimmen, sodass landwirtschaftliche Erzeugnisse effektiver und nachhaltiger genutzt werden. Und das sind nur zwei Beispiele der vielen Vorteilen, die sich durch solche KI-Services und Datenangebote ergeben.
Das Projekt REIF wird in der Projektlaufzeit bis Ende 2022 neben der Plattform bereits KI-Services entwickeln und in den Branchen Molkerei, Fleisch und Backwaren erproben und validieren. Angesichts der Komplexität der Nahrungsmittelindustrie setzen die Lösungen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und -verlusten dabei an vielen unterschiedlichen Stellen des Wertschöpfungsnetzwerkes an.
Entsprechend ist das Projekt REIF in insgesamt acht Teilprojekte aufgeteilt. So wurde beispielsweise in einem Teilprojekt bereits ein Service entwickelt, der die Pumpfähigkeit einer Käsemasse vorhersagt. Damit lässt sich eine Verstopfung im Verarbeitungsprozess und in der Folge auch Ausschuss vermeiden. Andere Teilprojekte nehmen die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick. Dazu gehört auch das Teilprojekt zur Verbesserung der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln.
Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln für mehr Nachhaltigkeit
Der Gesetzgeber verpflichtet die Beteiligten der Lebensmittelkette dazu, sicherzustellen, dass sich der Fluss von Rohstoffen und Waren auf allen Stufen rückverfolgen lässt. So müssen etwa Produzenten wie Bäcker angeben können, woher sie Rohstoffe wie Mehl oder Hefe bezogen haben und auch festhalten, an wen die fertigen Backwaren geliefert wurden. Die gesetzlichen Vorgaben zielen darauf ab, im Krisenfall möglichst rasch und genau die Lebensmittel aus dem Verkehr zu nehmen, die die Gesundheit der Verbraucher gefährden.
Wie wichtig das ist, erwies sich beispielhaft in der EHEC-Krise 2011: Die schwere Durchfallerkrankungen auslösenden EHEC-Bakterien waren damals durch Sprossen eines Betriebes in Bienenbüttel in den Verzehr gelangt. Die Suche nach dem Auslöser hatte Deutschland zuvor wochenlang beschäftigt. Behörden warnten zwischenzeitlich vom Verzehr von Blattsalaten, Gurken und Tomaten, weshalb diese Lebensmittel tonnenweise auf dem Müll landeten. Erst als die Quelle der EHEC-Verbreitung gefunden war, konnte Entwarnung gegeben werden: Es handelte sich um eingrenzbare Chargen von Saatgut aus Ägypten, sodass auch für aus anderem Saatgut gezogenen Sprossen Entwarnung gegeben werden konnte.
Das Beispiel verdeutlicht, wie eng bei Verbrauchern das Vertrauen in Lebensmittel mit deren Rückverfolgbarkeit über alle Stufen der Verwertungskette zusammenhängt. Zudem zeigt es, dass im Krisenfall durch eine präzise Rückverfolgbarkeit auch weniger Lebensmittel vernichtet werden müssen. Die Verantwortung zur Aufzeichnung, woher welche Waren stammen und wohin sie geliefert werden, liegt bei den einzelnen Unternehmen. Alle Beteiligten müssen also jeweils für sich die entsprechenden Daten sammeln.
Voraussetzung für die Rückverfolgbarkeit sind Standards
Im Projekt REIF soll dieser Datenbestand für unternehmensübergreifende Analysen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg nutzbar gemacht werden. Um solche Analysen zu ermöglichen, sieht das REIF-Konzept vor, dass die Beteiligten der Wertschöpfungskette standardisiert festhalten, was mit den Lebensmitteln wo, wann und warum passiert. Auf diese Weise kann jeder Schritt in der Produktion und Verarbeitung von Lebensmittel so festgehalten werden, dass er später jederzeit nachvollzogen werden und für Analysen genutzt werden kann.
Als Standard bieten sich die vom REIF-Partner GS1 entwickelten Electronic Product Code Information Services, EPCIS, an, mit denen Ereignisse entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Lebensmitteln erfasst werden können. EPCIS wurde in seiner ersten Version 2007 veröffentlicht und spezifiziert im Wesentlichen Schnittstellen zur Erfassung und Abfrage sogenannter EPCIS-Ereignisse. Mittels EPCIS werden Anwender in die Lage versetzt, Transparenz und Kontrolle über ihre jeweiligen Prozesse bedeutend zu steigern – und die gesetzlichen Vorgaben zur Rückverfolgbarkeit einzuhalten.
fTRACE, ein Tochterunternehmen von GS1 Germany, hat auf Basis von EPCIS bereits eine Rückverfolgbarkeitslösung entwickelt, die schon in der Praxis genutzt wird. Lieferkettendaten lassen sich damit einheitlich übermitteln und herunterladen, visualisieren und analysieren. Die entsprechenden Informationen werden dabei in standardisierten Codes festgehalten, sodass auf die Datenbasis jeweils mit einem einfachen Scan zugegriffen werden kann. Das schafft auch mehr Transparenz und Vertrauen für die Verbraucher. Mit einem einfachen Scan kann so beispielsweise an der Frischetheke nachvollzogen werden, woher etwa die Tiere eines Wurstproduktes stammen und von wem sie wo und wann verarbeitet wurden.
Durch die Rückverfolgbarkeit aller Ereignisse entlang der Wertschöpfungskette ergeben sich für Erzeuger, Hersteller und Handel aber auch weitere, entscheidende Vorteile: Die Daten können für KI-Services genutzt werden, die Beteiligte der Wertkette beispielsweise über ein verändertes Konsumverhalten von Verbrauchern informiert. Erzeuger und Hersteller können sich so schneller und besser auf die Nachfrage im Markt anpassen. Im Ergebnis wird mehr von dem produziert, was sich Verbraucher wünschen, sodass am Ende weniger Lebensmittel weggeworfen werden. So führt die Kombination aus Künstlicher Intelligenz und digitaler Vernetzung zu mehr Nachhaltigkeit in der Lebensmittelindustrie.