Auch wenn Autos noch nicht autonom fahren können – Künstliche Intelligenz durchdringt unseren Alltag. Wir navigieren, nutzen Übersetzungs-Tools, merken beim Online-Shopping, dass sich Preise verändern, und geben Siri oder Alexa kleine Aufträge. Zugleich haben nur wenige eine klare Vorstellung davon, was KI bedeutet.
Ein Unternehmen ohne erkennbares Geschäftsmodell brauchte deshalb nur einen schicken Namen („Augustus Intelligence“) und ein paar Lobbyisten, um sich in namhaft besetzte Gremien zu drängen. Nach einer Bitkom-Umfrage vom Juni 2020 sieht man zwar in drei Viertel der deutschen Unternehmen ab 20 Mitarbeitern KI als wichtigste Zukunftstechnologie, jedes vierte erlebt sie aber als Gefahr, 17 Prozent sogar als existenzbedrohend. Nur sechs Prozent setzen aktuell irgendeine Form davon ein, und nur jedes fünfte plant, KI zu nutzen.
„KI steht in den 2020ern dort, wo Computer in den 1980ern standen“, erklärt Nils O. Janus, Head of Advanced Analytics bei Covestro. Pioniere waren naturgemäß High-Tech-Unternehmen wie Google, Amazon oder Roboterhersteller. Inzwischen sind auch die Finanzbranche, die Automobil- und Agrarindustrie dabei, sich die Möglichkeiten der KI zu erschließen.
Prozessindustrie steht bei KI erst am Anfang
Die Prozessindustrie steht dagegen „noch am Anfang“, sagt Damian Stellmach, Senior Business Development Manager (global) der Business Unit Digitalization bei Process Automation Solutions. Dafür gibt es Gründe. Selbst wenn die KI nur einem Teil der Kunden eines Shopping-Portals zutreffende Vorschläge macht, generiert sie Umsatz.
In der chemischen oder pharmazeutischen Industrie etwa herrschen dagegen höchste Anforderungen an die Verlässlichkeit. Neue Technologien werden deshalb „bisher nur in Pilotanlagen ausprobiert“, so Wilfried Grote, Director Industry Management Chemicals and Pharmaceuticals bei Phoenix Contact Electronics.
Dazu kommt: Die Anlagen sind meist hochkomplex, oft Unikate, gelegentlich bereits älter. Es muss eine riesige Menge nicht selten schwer erschließbarer Daten verarbeitet werden. Deshalb lassen sich gegenwärtig „bestenfalls Fallstudien“ realisieren, sagt Reinhard Knapp, Leiter Global Strategies bei Aucotec. Zwar schreitet die Digitalisierung voran, sie ist aber oft noch nicht weit genug gediehen.
Die Unternehmen schrecken vor erwarteten hohen Kosten zurück, und es fehlt an eigener Sachkunde. Nach außen möchte man die Entwicklung ungern geben, da Wissen zu Prozessen und Anlagendesigns geheim bleiben soll. Das gilt auch für Daten zu Störfällen, so Reinhard Knapp. Zudem ginge so „Autonomie der Entwicklung“ verloren, sagt Nils O. Janus von Covestro.
Mit KI Optimierungspotenziale erschließen
Der Innovationsdruck steigt allerdings beständig: Kunden erwarten individuelle Produkte und schnellere Lieferung. Die Produktlebenszyklen werden kürzer, die Margen enger. Zugleich sind die herkömmlichen Optimierungsmethoden oft weitgehend ausgereizt.
„Für die Prozessindustrie bietet KI großes Potenzial“ meint Eckard Eberle, CEO der Siemens Business Unit Process Automation. Sie kann helfen, die „Prozesseffizienz zu erhöhen, Standzeiten zu reduzieren und Wartung und Service zu optimieren.“ Denn sie bietet die Chance, komplexe Systeme besser zu verstehen. Auch Ressourcen- und Energieverbrauch, Produktqualität, Durchsatz und Sicherheit sollen sich mithilfe von KI steigern lassen. Hans-Georg Krabbe, Vorstandsvorsitzender der deutschen ABB, nennt die KI eine „Schlüsseltechnologie“.
Um die Hürden beim Einsatz von KI in der Prozessindustrie – und nicht zuletzt bei KMU – zu überwinden, haben sich Hersteller, Softwareentwickler, Fachverbände und Forschungseinrichtungen im Keen-Konsortium zusammengeschlossen. Unterstützt vom Wirtschaftsministerium arbeitet man hier an der Entwicklung und Erprobung von universell adaptierbaren KI-Lösungen für die Prozessindustrie.
Zunächst fokussiert man sich auf Chemie und Biotechnologie. Künftig sollen etwa auch Nahrungsmittelverarbeitung, Wasseraufbereitung und die pharmazeutische Industrie von den Ergebnissen profitieren. Im Rahmen des Projekts will man universelle, übertragbare KI-Anwendungen als Leuchtturmprojekte für die Prozessindustrie entwickeln – man setzt deshalb auf offene Schnittstellen.
Potenzielle Anwender sollen die Möglichkeiten in KI-Inkubator-Laboren kennenlernen. Im Rahmen von Keen werden auch Digitale Zwillinge entwickelt. Mit diesen virtuellen Abbildern von Anlagen sollen Änderungen an Prozessen und Fehlerchecks durchgespielt und Produktionsunterbrechungen vermieden werden.
Selbstständiges Lernen
Anders als bei herkömmlicher Software, die einfach erledigt, was programmiert wurde, geht es bei KI um Systeme, die Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen und Erlerntes auf neue Situationen übertragen können (Machine Learning). Einen Schritt weiter geht Deep Learning. Hier werden neuronale Netze eingesetzt, um in mehreren Verarbeitungsschichten noch größere Datenmengen zu analysieren. Oft werden die Systeme nicht nur vorab trainiert, sie lernen im Einsatz weiter.
Dieses selbstständige Lernen weckt Bedenken. Denn es „ist nicht mehr unbedingt nachvollziehbar, wie Ergebnisse zustande kommen“, erklärt Reinhard Knapp von Aucotec. „Die Verantwortlichen in den Unternehmen machen sich Gedanken, ob sie der KI vertrauen können und ob die neuen Technologien auch allen rechtlichen Vorschriften entsprechen“, sagt Dr. Wolfgang Hildesheim, Director IBM Watson, Leiter Data Science & Artifical Intelligence in der DACH-Region. Bei IBM arbeitet man deshalb daran, die Entscheidungswege der KI offenzulegen und zu dokumentieren.
Und auch bei Keen fokussiert man sich darauf, Entscheidungen, Analysen und Empfehlungen der KI-Anwendungen transparent zu gestalten (explainable AI). Bedenken in Sachen Datensicherheit begegnet man etwa bei IBM mit der Option, die KI im Rechenzentrum des Kunden in einer privaten Cloud zu betreiben.
Anders als der Mensch
KI-Systeme sollen nicht einfach menschliches Denken abbilden. Zudem sind die derzeit existierenden KI-Anwendungen keine Generalisten, sondern meist hochspezialisiert. Aber auch in einem enger gesteckten Rahmen können sie aktuell den Menschen nicht ersetzen, sprich: autonom agieren. Die (Haftungs-)Risiken wären zu groß.
Die Entscheidung „liegt natürlich nach wie vor beim Menschen“, sagt Wolfgang Hildesheim von IBM. „In kritischen Anlagen, wie wir sie in der Prozessindustrie haben“, wird der Mensch „immer das letzte Wort haben“ meint Damian Stellmach von Process Automation Solutions. Allerdings kann eine KI helfen, trotz des Fachkräftemangels weiterhin hochproduktiv zu bleiben.
Immer noch ist ein großer Teil des Prozesswissens nicht digitalisiert – es droht durch den demographischen Wandel verloren zu gehen. Eine Option, es zu erhalten, besteht darin, eine KI bestmöglich mit diesem Know-how zu füttern. Was gewinnt man dadurch? „Hoffentlich bessere Entscheidungsgrundlagen“, sagt Reinhard Knapp von Aucotec.
Allerdings ist Vorsicht geboten – denn es „ergeben sich zahlreiche Fehlerquellen, etwa durch falsche Interpretation der Daten“, so Wilfried Grote von Phoenix Contact. Auch Wolfgang Hildesheim weist darauf hin, dass „Ergebnisse verzerrt“ werden können, wenn „KI-Systeme nicht mit soliden und vielfältigen Datensätzen optimiert“ werden.
Schnell die Datenfluten erschließen
Anderseits kann der Einsatz von KI auch heute schon für mehr Sicherheit und Effizienz sorgen. Denn in einem sind KIs den Menschen voraus: Sie können schnell riesige Datenmengen und eine Unzahl sich ständig ändernder komplexer Prozessinformationen durchforsten, Anomalien erkennen, Prognosen treffen und Aktionen vorschlagen.
All die Produktions-, Sensor- und Bildinformationen können Menschen nicht mehr allein auswerten – ein riesiges Potenzial bleibt ungenutzt. Eine KI kann die relevanten Informationen aus der Datenflut filtern. Bereits diese „Augmented Intelligence“, wie Nils O. Janus von Covestro diese KI-Entwicklungsstufe nennt, kann helfen, Stillstände, Qualitätsprobleme und Fehlchargen zu vermeiden, Produktionsprozesse, Energie- und Ressourceneffizienz zu optimieren und die Entwicklung neuer Prozesse und Rezepturen sowie Produktionsumstellungen zu beschleunigen.
Weitere Einsatzgebiete sind Predictive Maintance, Unterstützung beim Supply Chain Management und der Preisbildung. IBMs Watson bietet bereits jetzt einen Baukasten von Modulen, Systemen und Services, die helfen sollen, komplexe Fragestellungen zu beantworten. Siemens etwa stellt Produkte für die Früherkennung von Problemen, die Analyse von chemischen Anlagen und die Qualitätssicherung in der Papierindustrie bereit. ABB hat ein Unterstützungssystem für die Qualitätssicherung von Chargenprozessen entwickelt und testet einen intelligenten Assistenten, der auf Anfrage und ereignisgesteuert Unterstützung bietet.
Chancen im internationalen Wettbewerb
In Zukunft werden die Autonomie – und die Einsatzfelder – der KIs in der Industrie zunehmen. Für Damian Stellmach von Process Automation Solutions lautet die Frage „nicht ob, sondern wann“.
Während man in China im Consumer-Bereich schon sehr weit vorangeschritten ist, und in Nordamerika die Entwicklung teilweise durch Rückstände in Sachen Automatisierung und Infrastruktur gebremst wird, besetzt Europa „bei den KIs in der Prozessindustrie sicherlich eine gute Position“, so Stellmach. Auch bei ABB sieht man in Deutschland und Europa besondere Chancen in der industriellen Anwendung – denn hier stehe das notwendige Fachwissen zur Verfügung.
Eckard Eberle von Siemens ist deshalb überzeugt, dass man KI nicht als „Bedrohung für Arbeitsplätze“ sehen sollte. Er ist überzeugt, dass ihr Einsatz sogar „langfristig den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken“ wird.