Plastikflaschen, leere Dosen, altes Spielzeug, zerrissene T-Shirts und ausgediente Mobiltelefone – Tag für Tag produziert die Menschheit Millionen von Tonnen Abfall. Bisher galt Recycling als die bestmögliche Entsorgungsmethode. Aber sie ist teuer: „Viele vom Menschen gemachten Stoffe sind chemisch sehr stabil. Um sie wieder in ihre Bestandteile zu zerlegen, muss man viel Energie aufwenden“, erklärt Job Boekhoven, Professor für Supramolekulare Chemie an der TU München. Der Chemiker verfolgt einen anderen Weg – und orientiert sich dabei an biologischen Prozessen.
Recycling in der Natur
Die Natur produziert keine Müllberge. In biologischen Zellen werden die Moleküle ständig recycelt und zum Bau neuer verwendet. Einige dieser Moleküle bilden größere Strukturen: sogenannte supramolekulare Einheiten, die als Struktur-Bausteine der Zellen dienen. Von dieser Dynamik ließen sich die TU-Forscher inspireren - zu Stoffen, die sich selbst entsorgen.
Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen vom Menschen hergestellten Stoffen und den meisten biologischen Materialien ist ihr Energiemanagement: Menschgemachte Stoffe befinden sich im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung – da kein Austausch von Molekülen oder Energie stattfindet, bleiben sie wie sie sind.
Verfall als Verbündeter
Die Natur arbeitet nach einem anderen Prinzip: Lebendige biologische Materialien wie Haut und Knochen, aber auch einzelne Zellen, sind nicht im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Für Aufbau Erhalt und Reparatur werden ständig Bausteine und Energie benötigt. Solange genügend Energie zur Verfügung steht, werden defekte Bestandteile und ganze Zellen abgebaut und durch neue ersetzt, anderenfalls stirbt der Organismus und zerfällt in seine Grundbausteine.
Geliehene Energie bestimmt Lebensdauer
Die neuen Materialien orientieren sich an diesem natürlichen Vorbild: Die molekularen Bausteine sind zunächst frei beweglich. Gibt man jedoch Energie in Form hochenergetischer Moleküle zu, verbinden sie sich zu supramolekulare Strukturen.
Ist die Energie aufgebraucht, zerfallen von selbst. Die Lebensdauer kann dabei durch die zugegebene Menge von Energie vorherbestimmt werden. Im Labor lassen sich die Bedingungen so wählen, dass die Materialien von selbst nach einem bestimmten Zeitraum – Minuten oder Stunden – zerfallen. Und am Ende ihres Lebenszyklus können die Bausteine weitergenutzt werden – einfach indem man wieder hochenergetische Moleküle zugibt.
Selbstzerstörende Tinte
Die Wissenschaftler entwarfen verschiedene Anhydride, die sich zu Kolloiden, supramolekularen Hydrogelen oder Tinten zusammensetzen. Angetrieben durch Carbodiimid, das als „Brennstoff“ dabei verbraucht wird, wandelt in diesen Materialien ein chemisches Reaktionsnetzwerk Dicarboxylate in metastabile Anhydride um. Wegen ihres metastabilen Charakters hydrolysieren diese mit Halbwertszeiten im Bereich von Sekunden bis zu einigen Minuten zu ihren ursprünglichen Dicarboxylaten.
Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin
Weil sich die Moleküle zu sehr unterschiedlichen Strukturen verbinden, ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten: Kugelige Kolloide beispielsweise lassen sich mit wasserunlöslichen Molekülen beladen – man könnte sie nutzen, um Medikamente gegen Krebs direkt zur Tumorzelle zu transportieren. Am Ende ihrer Mission würden sich die Kolloide selbständig auflösen und die Medikamente lokal freisetzen.
Andere Bausteine bilden lange, faserigen Strukturen, die Flüssigkeiten in Gele verwandeln. Diese eignen sich möglicherweise, um frisch transplantiertes Gewebe für eine definierte Zeit zu stabilisieren, bis der Körper ihre Funktion übernehmen kann. Und aus Molekülen, die sternförmigen Anordnungen bilden, ließen sich Tinten mit exakt definierter Haltbarkeit herstellen.
Ob es gelingt, nach dem Vorbild der Natur eines Tages auch supramolekulare Maschinen oder Handys zu bauen, die verschwinden, wenn sie nicht mehr benötigt werden? Ausgeschlossen sei dies zwar nicht, meint Boekhoven, „aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Noch arbeiten wir an den Grundlagen.“