Aufgrund steigender Nachfragen nach Systemlösung haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr Unternehmen zu Komplett- beziehungsweise Systemanbietern gewandelt. Auch die BHS vollzieht diesen Schritt. Wo liegen die Motive hierfür?
Kemmann:
Das Ziel, Systemanbieter zu werden, ist zum einen marktseitig getrieben: Unternehmen, also unsere Kunden, möchten verfahrenstechnische Kapazität nicht mehr in ihrem eigenen Haus haben. Sie delegieren dies vermehrt an die Lieferanten, um hier eine noch kompetentere Beratung, auch über einzelne Prozessschritte hinaus, zu erhalten. Der Wandel zum Systemanbieter wird zum anderen aber auch von den Anlagenbauern selbst forciert, da sich dies, wie bei der BHS, gut mit dem Konzept vereinbaren lässt: Wir sehen uns nicht als reinen Maschinenhersteller, sondern als ein Unternehmen, das verfahrenstechnische Lösungen entwickelt – unabhängig davon, ob ein Kunde eine einzelne Maschine beziehungsweise ein einzelnes Aggregat oder ein komplettes System bei uns erwerben möchte. Neben der Kompetenz des Maschinenbaus ist für uns deshalb auch die Verfahrenstechnik wichtig. Dies bedeutet, dass wir sehr umfangreich in Versuchs- und Testkapazitäten investieren und hier ein großes Portfolio vorhalten können. Weiterhin beschäftigen wir neben Ingenieuren für Maschinenbau auch sehr viele Fachkräfte für die Verfahrenstechnik und Chemie. Insofern stand bei uns die verfahrenstechnische Lösung immer schon im Vordergrund; folglich bietet es sich auch an, über die Grenze des einzelnen Verfahrensschrittes hinauszublicken und vor- und nachgelagerte Prozesse mit in die Leistungen aufzunehmen
Die BHS hat als Schritt zum Systemanbieter 2018 die AVA mit Sitz in Herrsching übernommen. Seit Januar 2021 ist die Tochtergesellschaft nun gemeinsam mit der BHS-Sparte Filtrationstechnik in die BHS Process Technology übergegangen. Wie ist der neue Geschäftsbereich aufgestellt?
Kemmann:
Ich muss hier etwas weiter ausholen: BHS-Sonthofen hat sich auch in der Vergangenheit schon nicht nur mit Filtrationstechnik beschäftigt. Wir haben eine Reihe von verschiedenen Schritten der mechanischen Verfahrenstechnik in unserem Portfolio und auch einen Kundenstamm, der sich über viele verschiedene Industriebereiche hinwegzieht. Aufgrund der geplanten Integration von AVA und einiger Überschneidungen bei unseren Zielgruppen wurde eine Neuaufstellung notwendig. Im Zuge dieser Neuaufstellung adressieren drei Business Units einen jeweils eigenen Zielgruppenbereich. Für Kunden der Prozessindustrie – zuvorderst die chemische Industrie, aber auch im Bereich der Lebensmittel- und Pharmaindustrie – ist zukünftig die Business Unit Process Technology zuständig, die am Markt unter dem Namen BHS-Sonthofen Process Technology GmbH & Co. KG mit Firmensitz in Sonthofen und dem Standort in Herrsching auftreten wird.
Wo sehen Sie die wichtigsten Synergien?
Kemmann:
Wir sehen die Synergien im Wesentlichen in der Erarbeitung verfahrenstechnischer Lösungen für den Kunden, das bedeutet: das Durchführen von Versuchen, das Auslegen entsprechender Aggregate beziehungsweise eines gesamten Prozesses sowie das Erstellen von Verfahrensfließbildern. Wir können so eine noch umfassendere und kompetentere Beratung anbieten, als wenn wir uns nur mit einzelnen Prozessschritten, sei es der Filtrations- oder der Trocknungstechnik, beschäftigen.
Was waren im Zuge der Neuaufstellung die größten Herausforderungen?
Kemmann:
Wir sind diese Integration mit Bedacht angegangen, auch wenn es direkt nach der Übernahme der AVA schon strategische Überlegungen in diese Richtung gab. Bei einer Neuaufstellung stellen sich immer eine Reihe von Herausforderungen – egal in welcher Branche und egal bei welchem Unternehmen. Hier hilft es, wenn man nichts überstürzt. Darüber hinaus sehen wir die für uns größere Herausforderung darin, dass wir das Versprechen, die Kunden nun über die Grenzen des einzelnen Verfahrensschrittes hinaus beraten zu können, in die Realität einlösen. Hierfür war ein Wissensaustausch zwischen den verschiedenen Disziplinen notwendig, außerdem mussten wir unsere Testmöglichkeiten erweitern.
Welche Bedeutung haben diese Testmöglichkeiten für Ihr Geschäft?
Spies:
In unserem Geschäft sind Versuche essenziell. Wir erhalten jeden zweiten Auftrag über einen erfolgreichen Versuch. Folglich haben wir unsere Testkapazitäten dezentralisiert und in unseren Kernmärkten entsprechende Testzentren mit Versuchs- und Pilotanlagen aufgebaut, in denen unsere Kunden lokal Versuche vornehmen können. Der Ausbau der Testkapazitäten ist gleichzeitig aber auch eine Synergie, die wir aus dem Zusammenschluss ziehen: Wir profitieren davon, dass wir nun eine entsprechende Größe haben, dies umzusetzen. Der Ausbau der Versuchsanlagen erfordert erheblichen zeitlichen und finanziellen Invest – vor allem, weil es sich hierbei immer um Geräte in High-End-Ausstattung handelt.
Ein Gewinn aus der Zusammenführung von BHS und AVA ist die noch kompetentere Beratung der Kunden. Welchen Mehrwert sehen Sie noch in der Neuaufstellung?
Kemmann:
Wir können grob zwischen zwei Bedürfnissen unterscheiden, die die Kunden haben: Auf der einen Seite möchte sich der Kunde eine Schnittstelle sparen und sucht hierfür einen Komplettanbieter. Der Produktions- oder Herstellungsprozess bestimmter chemischer Rohstoffe muss also nicht neu erfunden werden; hier bieten wir dem Kunden den Mehrwert, dass wir die Gesamtverantwortung übernehmen. Auf der anderen Seite – und diese ist um einiges spannender für uns – können wir aus der Verkettung der verschiedenen Verfahren nun neue Lösungen anbieten, die früher für uns nicht möglich gewesen wären. Hier sehen wir verstärkt unsere Beratungskompetenz, da wir mit dem Kunden nun partnerschaftlich neue Verfahren entwickeln und diese mit ihm von A bis Z durchspielen können. Das gilt natürlich nicht nur für die Business Unit Process Technology, sondern auch für die anderen Geschäftsbereiche, beispielsweise für die Umwelt- und Recyclingtechnik.
Können Sie hier Beispiele nennen?
Kemmann:
Nehmen wir den Bereich der Umwelttechnik: Ein konkretes Beispiel ist das Recycling von Lithium-Ionen-Batterien. Ein weiteres Exempel stammt mit Cellulosederivaten aus dem Bereich der chemischen Industrie – hier können wir nun über die komplette Prozesskette Lösungen anbieten.
Spies:
Auch im chemischen Recycling findet sich eine Reihe von Anwendungen, in denen filtriert und getrocknet werden muss. Hier tun sich momentan interessante Märkte auf, die es uns ermöglichen, komplett neue Verfahren anzubieten, beispielsweise für das Kunststoff-PET-Recycling. Gleiches gilt auch für die klassische Chemie und Feinchemie.
Wie differenziert sich BHS-Sonthofen vom Wettbewerb?
Kemmann:
Wir unterscheiden uns im Wesentlichen in zwei Punkten von unseren großen Wettbewerbern. Die meisten sind zwar breit aufgestellt, wirkliche Expertise und eine führende Marktposition haben sie aber zumeist doch nur in einem bestimmten Segment. Hier gibt es beispielsweise sehr starke und integrierte Anbieter für Prozesslösungen im Bereich Lebensmittel oder auch im Bereich des kommunalen Abwassers. Unser Anspruch hingegen ist: Im Geschäftsbereich Process Technology wollen wir für die chemische Industrie der führende Anbieter für verfahrenstechnische Lösungen sein. Das zweite Unterscheidungskriterium betrifft die Integration von getätigten Akquisitionen. Einige Unternehmen haben zwar viele Firmen mit unterschiedlichen Technologien aufgekauft, schaffen es aber nicht, sie zu einer Einheit zu integrieren. So sind einfach nur Anbieter mit einer breiten Produktpalette entstanden, ohne dass dem Kunden eine tiefere Verfahrenskompetenz geboten wird – unser Anspruch ist hier genau gegenteilig.
Industrie 4.0 ist im Maschinen- und Anlagenbau heiß diskutiert. Welche Rolle spielt Industrie 4.0 für Sie?
Kemmann:
Industrie 4.0 ist ein Begriff, der differenziert betrachtet werden muss. Das alleinige Angebot eines Datenübergabeformats stellt für den Kunden noch keinen Quantensprung dar. Das sind Basisfunktionen, die der Kunde heute erwartet und die wir selbstverständlich auch bedienen. Unser Fokus liegt aktuell auf der Digitalisierung der Versuchserfassung und -auswertung, sprich: Wir möchten unsere Versuchsanlagen und das Laborequipment mit entsprechender Sensorik ausstatten. Die so gewonnenen Daten können zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Das Ziel muss hier natürlich sein, dass anhand von Stoffeigenschaften und auf Künstlicher Intelligenz basierten Tools Ergebnisse simuliert werden, ohne dass diese erst in einer aufwendigen Versuchsreihe nachgewiesen werden müssen. Bis dies aber wirklich zum Durchbruch kommt, müssen noch einige technische Herausforderungen gemeistert werden.
Welche Hürden sehen Sie auf diesem Weg?
Kemmann:
Die Grundlage hierfür sind verfügbare Daten. Auf Kundenseite ist allerdings die Bereitschaft noch nicht allzu groß, Daten zu teilen. Und auch wenn wir bei BHS in unseren Überlegungen schon relativ weit sind, gibt es für uns auch noch Hürden zu überwinden: Die Anforderungen, die wir an die Sensoren stellen, finden wir auf dem freien Markt aktuell noch nicht erfüllt. Die Maschinen müssen unter anderem Atex-zertifiziert und korrosionsbeständig sein, gleichzeitig aber auch sehr präzise.
Viele Unternehmen orientieren sich immer mehr nach China. Welche Weltregion sehen Sie als Ihre Zukunftsmärkte und warum?
Steidl:
Der weltgrößte Chemieproduzent ist China. Anschließend folgen USA, Deutschland, Japan und noch einige weitere europäische Länder. Auf diesen Regionen liegt aktuell unser Fokus, und dies wird sich auch nicht ändern. Die größten zukünftigen Entwicklungen sind in Asien zu erwarten, auch die USA sind nicht zu vernachlässigen. Und in Europa liegt unser Stammgeschäft, hier kommen wir her, hier haben wir schon jetzt eine sehr starke Präsenz am Markt.
Kemmann:
Wir sehen eine Zweiteilung auf dem Markt. In Europa und den USA werden Verfahren neu entwickelt, die vielleicht erst in zehn Jahren oder noch später in der Produktion Anwendung finden. Hier beobachten wir auch verstärkt Start-ups, die mit Innovationen an den Markt gehen. Die richtig großen Investitionen hingegen finden in Asien, und dort vornehmlich in China, statt.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Wie sehen Ihre Ziele für die nächsten fünf Jahre aus?
Kemmann:
Wir möchten unser Versprechen, dass wir dem Markt nun eine tiefe verfahrenstechnische Beratung sowie entsprechende Versuchskapazitäten auf den für uns relevanten Kontinenten bieten können, einlösen. Dies soll sich natürlich auch bei uns im entsprechenden Wachstum niederschlagen, das bedeutet: Wir möchten, wie erwähnt, in dieser Prozesskette im Bereich der chemischen Industrie der weltweit führende Anbieter sein.
Wachstum geht auch über Zukäufe. Planen Sie in den nächsten Jahren noch weitere Akquisition?
Kemmann:
Der Markt ist nicht mit einem Supermarkt vergleichbar, in dem ich mir einfach eine Firma aussuche, die am besten passt. Aber wenn sich eine Gelegenheit für eine Übernahme bietet, die strategisch in unser Geschäftskonzept passt, sind weitere Akquisitionen vorstellbar.
Welche Bereiche wären für die BHS interessant?
Kemmann:
Für die Business Unit Process Technology gesprochen, gäbe es sinnvolle Ergänzungen in der Fest-Flüssig-Trennung und Trocknungstechnik. Hier gibt es auf dem Markt Technologien und Verfahren, die wir aktuell noch nicht anbieten.