Modernisierung der Leittechnik Alle Infos im Blick

Mit dem neuen Prozessleitsystem haben die Anlagenfahrer alle wichtigen Informationen im Blick. Neue Systeme können jederzeit herstellerübergreifend integriert werden.

Bild: Siemens; iStock, bowie15
15.05.2018

250.000 Alarme, mehr als 10.000 Prozessobjekte, 54 Monitore: Wie lassen sich solche Mengengerüste in einem Prozessleitsystem verarbeiten und 700 Fremdsteuerungen sowie Komponenten verschiedener Hersteller einheitlich in dieses System einbinden? Ein Müllheizkraftwerk hat dies in einer Anlagenmodernisierung realisiert – hochverfügbar und im laufenden Betrieb.

Fünf Verbrennungslinien, vier Rauchgasvorreinigungen, drei Rauchgasnachreinigungen und zwei Turbinen für eine Abfalltonnage von etwa 400.000 Tonnen pro Jahr – die AWG Abfallwirtschaftsgesellschaft Wuppertal betreibt für die thermische Behandlung von Abfällen ein Müllheizkraftwerk. In zwei Stufen sollte hier eine Modernisierung der vom bisherigen Leittechniklieferanten abgekündigten Leittechnik erfolgen. In der ersten Stufe waren die Aktualisierung der Bedien- und Beobachtungsebene sowie die Integration der Gebäudeleit- und Schalttechnik geplant. Die Herausforderung lag dabei in der Anbindung der unterschiedlichen Steuerungen und Schaltgeräte. Hinzu kam die Anforderung, alle Arbeiten im laufenden Betrieb der Anlage vorzunehmen.

Die Verfügbarkeit des Gesamtsystems war aus zwei Gründen wichtig: Die Nichteinhaltung der Verträge mit den Kommunen führt zu hohen Vertragsstrafen, außerdem sind viele Endverbraucher von der Fernwärme abhängig. Im schlimmsten Fall ist ein Anlagenausfall mit einem unkontrollierten Austritt an Rauchgasen verbunden und stellt somit ein Risiko für Umwelt und Gesundheit dar. Des Weiteren war es essentiell, dass die Bediener und Anlagenfahrer sich schnell und sicher in das neue System einfinden und mit ihm vertraut werden. Die Ausbaustufe 2 beinhaltet die Migration der kompletten Automatisierungstechnik.

Den Zuschlag für die Modernisierung bekam im März 2015 focus Industrieautomation, ein Siemens-Solution-Partner aus Merenberg. Das Unternehmen realisierte bis November 2016 die Stufe 1, den Austausch der Bedien- und Beobachtungsebene. Das Leitsystem wurde im laufenden Betrieb auf Simatic PCS 7 mit der Technologiekomponente PCS 7/Open OS von Siemens umgestellt.

Dazu wurde das neue System zunächst zu 100 Prozent im Parallelbetrieb geprüft, anschließend wurde die Hälfte der Bedienstationen des Altsystems gegen die neuen Simatic-PCS-7-OS-Stationen getauscht. Während einer vierwöchigen Testphase erfolgte eine intensive Systemprüfung und die Schulung der Bediener. Im Anschluss daran konnte das Altsystem abgeschaltet und die neue PCS-7-Leittechnik in Betrieb genommen werden.

70.000 Prozessvariable ausgetauscht

Das Ergebnis war eine optimale Strukturierung der neuen Lösung inklusive einer transparenten Dokumentation und Prozessbeschreibung. 400 Prozessbilder wurden ins neue System übernommen. Über 10.000 Prozessobjekte wurden in 35 Basistypen mit etwa 250 verschiedenen Derivaten (Ansichten) überführt. WinCC/ODK (Open Development Kit) konnte genutzt werden, um alle Prozessbilder des vorherigen Leitsystems zu konvertieren und im neuen System einzubinden. Seitdem werden etwa 70.000 Prozessvariablen über das Bedien- und Beobachtungssystem ausgetauscht.

Vorher eigenständige Systeme, wie das abgekündigte Bedien- und Beobachtungssystem des bisherigen Leittechniklieferanten, die Gebäudeleittechnik eines Drittanbieters und die Sicam Pas Mittelspannungs-Schalttechnik, wurden mit Simatic PCS 7 zusammengeführt. Den Anlagenfahrern stehen nun alle Informationen in einem einheitlichen Leitsystem zur Verfügung. Früher gab es unterschiedliche Bedienphilosophien, Berichtswesen und Datenstrukturen. Heute ermöglicht die neue Lösung ein identisches Alarming und eine einheitliche Bedienung der ursprünglichen Einzelsysteme.

Die technische Umsetzung im Detail

Die neue Lösung basiert durchgängig auf virtueller Technologie. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die hohe Systemverfügbarkeit gelegt. Diese wird unter anderem durch den redundanten Aufbau sämtlicher Hardwarekomponenten wie Server, Storages, Netzwerk-Infrastruktur, Zeitserver und Unterbrechungsfreie Stromversorgungen (USV) gewährleistet. Eine zusätzliche Sicherheit ist durch die räumliche Trennung des redundanten Systems gegeben. Durch den Einsatz eines virtuellen Clusters wird die Verfügbarkeit der Betriebssysteme sichergestellt. Beide Server sind so ausgelegt, dass im Fehlerfall ein Server allein das gesamte System übernehmen kann. Möglich ist dies durch die Verwendung eines redundanten Storage Clusters.

Die Netzwerk-Topologie wurde von der Steuerung bis zum Bedienplatz hochverfügbar ausgelegt. Die Netzwerke wurden dazu funktional getrennt. Zur Kommunikation zwischen den Servern und den Steuerungen wurden zwei autarke Anlagenbusringe aufgebaut und insgesamt 21 OPC-Server genutzt. Der Terminalbus zur Anbindung der Bedienstationen wurde mittels Scalance X524 und Scalance X204RNA als Doppelringnetzwerk und damit zweifach redundant bis hin zum Thin Client ausgelegt. Ein Sinema-Server übernimmt die Überwachung des gesamten Netzwerks.

Aufgrund der Anlagenstruktur des Müllheizkraftwerks wurden zwei redundante OS-Serverpaare eingesetzt. Die Bedienung erfolgt über elf Simatic-PCS-7-OS-Clients für Bediener und Schichtleiter. Jeder Client verfügt über vier Monitore. Die sechs vorhandenen Großbildschirme in der Leitwarte sind über zwei Simatic-PCS-7-OS-Clients angebunden. Neben den virtuellen Simatic-PCS-7-OS-Clients werden für die Systempflege und die Wartung vier weitere virtuelle Engineering-Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt.

Eine weitere Anforderung ist ein sicherer Zugriff aus der Officewelt auf das Leitsystem. Hierzu wurde der Zugriff über eine Firewall ermöglicht. Der Simatic-PCS-7-OS-Webserver wurde in einer eigens geschaffenen demilitarisierte Zone (DMZ) installiert. Der gleichzeitige Zugriff mehrerer Benutzer auf den Simatic-PCS-7-Runtime-Viewer erfolgt über einen Terminalserver.

Kundennutzen

Das System von Siemens vereinheitlicht unterschiedliche Bedien- und Visualisierungsformen sowie deren Alarmsysteme. Maschinennahe Steuerungen unterschiedlicher Hersteller lassen sich mit Open OS nahtlos in die Leittechnik und somit in ein einheitliches Bedien- und Beobachtungssystem integrieren. „Die Verfügbarkeit steigt mit PCS 7“, bestätigt Wolfgang Krause, Instandhaltungsleiter von AWG und Entscheider für Simatic PCS 7.

Der gesamte, hochkomplexe Prozess muss 365 Tage im Jahr rund um die Uhr reibungslos laufen. Die Überwachung aller Prozessobjekte, von der Initialzündung in den Brennern, der Stromerzeugung in Turbine und Generator bis zur Emissionsüberwachung in der Rauchgasanlage, übernimmt das Bedien- und Beobachtungssystem von Siemens. Jeder Bediener überwacht bis zu zwölf Bildschirme gleichzeitig. Durch die übersichtliche, an das Altsystem angelehnte Darstellung hat der Anlagenfahrer alle wichtigen Informationen im Blick. Neue Systeme und Komponenten können jederzeit und herstellerübergreifend im laufenden Betrieb integriert werden. „Uns war wichtig, dass wir ein offenes, flexibles System haben", so Wolfgang Krause. „Und das haben wir bekommen.“

Zukünftige, geplante Modernisierungen

Kaum war Stufe 1 der Anlagenmodernisierung abgeschlossen, ging es weiter: Der Leittechniker der focus Industrieautomation hat die beiden neuen Diesel-Notstromaggregate in Schiffscontainergröße mit einer Leistung von jeweils 2 MW in das Simatic-PCS-7-Leitsystem integriert. Weiterhin wurde in der Zwischenzeit bereits der erste Schritt der Visualisierung des bestehenden Fernwärmesystems der benachbarten Kohle- und Gaskraftwerke umgesetzt. Innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre soll Stufe 2, die Modernisierung der kompletten Automatisierungstechnik mit AS 410 Controllern von Simatic PCS 7, abgeschlossen sein. Für erste Tests ist bereits eine hochverfügbare AS 410 im Einsatz. Ein weiteres redundantes Simatic-PCS-7-Serverpaar ist schon im vergangenen Jahr erfolgt. Ist die Feldebene heutzutage noch klassisch verdrahtet, wird zukünftig auch bei der AWG mehr auf Buskommunikation und damit Profinet/Profibus gesetzt. Die Projektplaner sind sich schon jetzt einig, dass hierfür das dezentrale Peripherie ET 200 zum Einsatz kommen wird.

Bildergalerie

  • Die AWG wollte ein offenes, flexibles System, welches jederzeit die Implementierung neuer Komponenten erlaubt und den Gerätetausch im laufenden Betrieb ermöglicht.

    Die AWG wollte ein offenes, flexibles System, welches jederzeit die Implementierung neuer Komponenten erlaubt und den Gerätetausch im laufenden Betrieb ermöglicht.

    Bild: Siemens

  • Das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 erlaubt mittels Open OS die Integration aller Komponenten unterschiedlicher Hersteller sowie der gesamten Gebäudeleit- und Schalttechnik.

    Das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 erlaubt mittels Open OS die Integration aller Komponenten unterschiedlicher Hersteller sowie der gesamten Gebäudeleit- und Schalttechnik.

    Bild: Siemens

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