Prozesstechnische Anlagen sehen sich mit einem stetig steigenden globalen Wettbewerb konfrontiert. Um in Zeiten sinkender Margen gegensteuern zu können, müssen mehr Produkte in besserer Qualität bei minimalem Energie- und Ressourceneinsatz produziert werden. Gleichzeitig sind die Fertigungsprozesse umweltschonend zu verbessern sowie Abfallstoffe und Emissionen so weit wie möglich zu reduzieren.
Bei der Erreichung dieser Ziele kommt der Digitalisierung eine Schlüsselrolle zu. In der Fertigungsindustrie gehören das Industrial Internet of Things (IIoT) und Industrie 4.0 bereits zum Alltag. In naher Zukunft werden diese Konzepte ebenfalls Einzug in die Prozessautomatisierung und Instrumentierung halten.
Die Herausforderungen zur Umsetzung von IIoT und Industrie 4.0 in der Prozesstechnik bestehen allerdings darin, anlagenweit Zugriff auf sämtliche wesentliche Daten zu erlangen, durch deren Auswertung sich Prozesse optimieren sowie die Anlageneffizienz und -verfügbarkeit erhöhen lassen. Zu diesem Zweck sind Informationen sowohl aus den Prozessautomatisierungssystemen als auch der Instrumentierung erforderlich.
Ethernet, das als De-facto-Kommunikationsstandard in Unternehmen genutzt wird, erfüllt die übertragungstechnischen Anforderungen der Prozessautomatisierung jedoch nicht ohne Änderungen. Aus Anwendersicht müssen für den Einsatz in der Prozesstechnik folgende Kriterien gegeben sein: Verwendung eines zweiadrigen Kabels, Unterstützung langer Distanzen bis 1.000 m, einfache Installationstechnik, Stromversorgung und Datenaustausch sollten über dasselbe Kabel möglich sein sowie Unterstützung des Explosionsschutzes inklusive Eigensicherheit.
Neue physikalische Ethernet-Schicht
Gemeinsam mit weiteren führenden Anbietern der Prozesstechnik arbeitet Phoenix Contact im Ethernet-APL-Projekt an der Realisierung einer Zweidraht-Ethernet-Lösung, die diesen von den Anwendern formulierten Eigenschaften entspricht. Zusammen mit den Standardisierungsorganisationen Profibus und Profinet International, FieldComm Group, ODVA und OPC Foundation etablieren die Industriepartner hierzu einen offenen Standard auf Basis einer neuen physikalischen Ethernet-Schicht zur Nutzung in der Prozessautomatisierung und Instrumentierung.
Ethernet mit einem Advanced Physical Layer (Ethernet-APL) auf einer Zweidraht-Leitung erlaubt große Kabellängen, kann in explosionsgefährdeten Bereichen eingesetzt werden und versorgt die Geräte optional auf dem gleichen Adernpaar mit Strom. Darüber hinaus lässt sich mit Ethernet-APL das vorhandene Feldbuskabel Typ A wiederverwenden, was die Kosten senkt und die Migration vom Feldbus zu Ethernet-APL vereinfacht.
Da es sich bei Ethernet-APL lediglich um einen alternativen Physical Layer handelt, können beliebige Ethernet-basierte Automatisierungsprotokolle genutzt werden. Auf diese Weise ermöglicht Ethernet-APL den direkten Zweidraht-Ethernet-Anschluss von Geräten und Sensoren, die in den Ex-Zonen prozesstechnischer Applikationen verbaut sind. Somit kann auf aufwendige Gateway-Lösungen verzichtet werden, wenn Anwender auf Daten aus dem Feldbereich zugreifen möchten.
Ethernet-APL erweist sich folglich als wirtschaftliche Basis und Enabler für die Umsetzung des IIoT in der Prozessautomatisierung. Eine durchgängige unternehmensweite Kommunikation via Ethernet ist nun ebenfalls auf den letzten Metern im Feldbereich machbar.
300-mal schnellere Übertragung
Der Standard 10BASE-T1L gemäß IEEE 802.3cg-2019 stellt die technologische Grundlage für die Ethernet-Übertragung dar. Der Single-Pair-Ethernet-Standard, der im Februar 2020 veröffentlicht wurde, adressiert neben der Prozesstechnik weitere Marktsegmente in der Gebäude- und Industrieautomation, die mit der gleichen PHY-Technologie bedient werden können.
Ergänzend zum Standard 10BASE-T1L beinhaltet Ethernet-APL Erweiterungen, die für Prozessanwendungen erforderlich sind. Die Anforderungen ergeben sich aus der Notwendigkeit von Außeninstallationen sowie dem Schutz in explosionsgefährdeten Bereichen. Die zusätzlichen elektrischen Parameter entsprechen den jeweiligen IEC-Normen und stellen so Interoperabilität und eine Vereinfachung in der Anwendung sicher. Ethernet-APL verwendet 10BASE-T1L und leitet Daten mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 10 Mbit/s vollduplex bis zu einer Entfernung von 1.000 m weiter, was mehr als 300-mal schneller ist als die derzeit in der Prozesstechnik eingesetzten Technologien wie Hart oder Feldbus leisten.
Zudem erlaubt Ethernet-APL die Installation über Schraub- oder Zugfederanschlüsse und unterstützt damit die Kabeleinführung durch Verschraubungen. Als Werkzeug reicht ein Schraubendreher aus, sodass sich die Anbindung von Ethernet-APL so einfach wie die einer 4…20mA-Zweidraht-Schleife mit Schirm gestaltet. Für den Ex-Schutz wendet Ethernet-APL die technische Spezifikation IEC TS 60079-47 (2-WISE) an, die den eigensicheren Schutz für Ex-gefährdete Zonen und Bereiche definiert. 2-WISE steht dabei für 2-Wire Intrinsically Safe Ethernet, also eigensicheres Zweidraht-Ethernet. Mit diesem Standard erhalten die Anwender ein einfaches Verfahren zum Nachweis der Eigensicherheit bei Ethernet-APL, ohne komplexe Berechnungen durchführen zu müssen.
Flexible Topologien mit optionaler Redundanz
Ethernet-APL ist für die Realisierung flexibler Installationstopologien mit optionaler Redundanz konzipiert. Dazu wird eine klassische Switch-Struktur genutzt, mit der sich Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zu anderen Geräten – seien es Endgeräte oder Switches – umsetzen lassen. Jede Verbindung zwischen den Kommunikationspartnern bildet jeweils ein „Segment“. Folglich isolieren Ethernet-APL-Switches die Datenübertragung zwischen den Segmenten. Auf diese Weise werden Störungen eliminiert und die Kommunikation vor Gerätefehlern in einem weiteren Segment geschützt.
Ethernet-APL legt zwei Segmenttypen fest: Der APL-Trunk bietet hohe Leistungs- und Signalpegel für Kabellängen bis zu 1.000 m. Der APL-Spur verfügt über eine geringere Leistung und ist optional eigensicher für Ausdehnungen bis zu 200 m. Der Spur-Port dient dem Daten- und Versorgungsanschluss der Ethernet-APL-Feldgeräte.
Bei den Ethernet-APL-Switches wird zwischen folgenden Ausprägungen unterschieden: Der APL-Power-Switch speist die Leistung und Daten in einen oder mehrere Trunk-Ports ein. Zu diesem Zweck wird er extern mit Spannung versorgt. Der APL-Field-Switch verfügt über APL-Spur-Ports, an welche die Feldgeräte und Instrumente angeschlossen werden. In der Regel beliefert der Switch diese dann mit Energie. Er selbst wird über eine Ethernet-APL-Leitung (Trunk) oder extern versorgt.
Je nach Applikation können an den Switches zusätzliche Standard-Ethernet-Ports zur Verfügung stehen, um beispielsweise das überlagerte Netzwerk anzukoppeln. Mit den passenden Ethernet-APL-Switches lässt sich die Netzwerktopologie flexibel projektieren – sowohl für kompakte Layouts als auch für Anlagen, die lange Kabelwege erfordern.
Die Parameter für Leistungs- und Kommunikationssignale sind in Ethernet-APL-Portprofilen definiert. Die Festlegung umfasst Portprofile mit sowie ohne Ex-Schutz. Speisende Ports auf den APL-Switches sowie geeignete Verbraucher werden entsprechend gekennzeichnet, was im gesamten Lebenszyklus vom Engineering bis zum Betrieb und der Wartung für ein reibungsloses Zusammenspiel sorgt.
Serienmäßige Chipproduktion
Im Rahmen der Namur-Hauptsitzung im November 2019 sowie des ARC-Forums im Februar 2020 hat Phoenix Contact erste funktionsfähige Prototypen von Ethernet-APL-Switches in Demonstratoren vorgestellt. Während die Namur-Installation mit den Projektpartnern ABB, Endress+Hauser, Krohne und Samson das Profinet-Protokoll einsetzt, um die Daten über den Ethernet-APL-Switch und die PLCnext Technology mit Bediengeräten und der Cloud zu verbinden, wurde auf dem ARC-Forum gemeinsam mit ABB eine Ankopplung über OPC UA gezeigt.
Mit dem Abschluss der 10BASE-T1L-Standardisierung und der Veröffentlichung des Standards IEEE 802.3cg-2019 im Februar 2020 hat das Ethernet-APL-Projekt einen wichtigen Meilenstein erreicht. Halbleiterhersteller planen, die finalen PHY-Chips Anfang 2021 in Serie auf den Markt zu bringen, die dann in erste Ethernet-APL-Geräte integriert werden können. Phoenix Contact strebt an, auf der Achema Ethernet-APL-Switches in einer mit den Industriepartnern des Ethernet-APL-Projekts angedachten Multivendor-Applikation zu präsentieren.