Der Hall-Effekt wird in der Industrie etwa verwendet, um Magnetfelder zu messen. Als Forscher in Wien ein exotisches Halbmetall aus Cer, Bismut und Palladium (Ce3Bi4Pd3) untersuchten, stellten sie etwas Ungewöhnliches fest: In dem Material tritt ein gigantischer Hall-Effekt auf, aber völlig ohne Magnetfeld.
Entdeckt wurde das von Sami Dzsaber, der an Ce3Bi4Pd3 eine Probemessung ohne Magnetfeld durchführte. „Eigentlich ist das eine ungewöhnliche Idee – aber in diesem Fall war das entscheidend“, sagt Prof. Silke Bühler-Paschen vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien.
Definitiv kein Magnetfeld vorhanden
Ein so starker Hall-Effekt wie in Dzsabers Messung lässt sich in anderen Materialien nur mit gewaltigen Spulen und rekordverdächtigen Magnetfeldern erzeugen. „Somit mussten wir eine weitere Frage beantworten“, sagt Bühler-Paschen: „Wenn ein Hall-Effekt ohne äußeres Magnetfeld auftritt, handelt es sich dann vielleicht um extrem starke lokale Magnetfelder, die auf winziger Größenskala im Inneren des Materials auftreten, aber außerhalb nicht mehr zu spüren sind?“
Um das herauszufinden, führten Wissenschaftler vom schweizerischen Paul-Scherrer-Institut eine Analyse von Ce3Bi4Pd3 durch. Sie nutzten hierzu Myonen – Elementarteilchen, die sich besonders gut zur Untersuchung magnetischer Phänomene eigenen. Doch dabei zeigte sich: Auch auf mikroskopischer Skala ist kein Magnetfeld nachzuweisen.
„Wenn es kein Magnetfeld gibt, dann tritt auch keine Lorentzkraft auf, die auf die Elektronen im Material wirken kann“, erklärt Bühler-Paschen, „aber trotzdem wurde ein Hall-Effekt gemessen. Das ist wirklich bemerkenswert.“
Unnatürliche Pole
Eine Erklärung für das merkwürdige Phänomen sehen die Forscher im komplizierten Zusammenspiel der Elektronen. Bühler-Paschen: „Die Atome dieses Materials sind nach ganz bestimmten Symmetrien angeordnet, und diese Symmetrien legen die sogenannte Dispersionsrelation fest – das ist der Zusammenhang zwischen der Energie der Elektronen und ihrem Impuls. Die Dispersionsrelation sagt uns, wie schnell sich ein Elektron bewegen kann, wenn es eine bestimmte Energie hat.“
Wichtig sei dabei auch, dass sich die Elektronen hier nicht einzeln betrachten lassen. Denn: „Zwischen ihnen herrschen starke quantenmechanische Wechselwirkungen“, weiß die Professorin.
Aus diesem komplexen Zusammenspiel ergeben sich Phänomene, die mathematisch aussehen, als würden sich magnetische Monopole in dem Material befinden; einsame Nord- und Südpole, die es in dieser Form in der Natur nicht gibt. „Auf die Bewegung der Elektronen wirkt das aber tatsächlich so wie ein sehr starkes Magnetfeld“, sagt Bühler-Paschen.
Viel stärker als in der Theorie
Der Effekt war zwar theoretisch schon vorhergesagt worden, nachweisen konnte ihn bisher allerdings niemand. Den Durchbruch brachte erst die Untersuchung mit Ce3Bi4Pd3.
„Unser Material zeichnet sich durch eine besonders starke Wechselwirkung zwischen den Elektronen aus“, erklärt Bühler-Paschen. „Man spricht hier vom sogenannten Kondoeffekt. Er führt dazu, dass diese fiktiven magnetischen Monopole genau die passende Energie haben, um die Leitungselektronen im Material extrem stark zu beeinflussen. So ist der Effekt mehr als tausendmal so groß wie theoretisch vorhergesagt.“
Der neue magnetfeldlose Hall-Effekt birgt einiges an Potenzial für Quantentechnologien. Hier sind beispielsweise nichtreziproke Elemente, die richtungsabhängige Streuung ohne äußeres Magnetfeld erzeugen, von Bedeutung; sie ließen sich mit diesem Effekt realisieren.
„Auch das extrem nichtlineare Verhalten des Materials ist von großem Interesse“, ergänzt Bühler-Paschen. „Dass sich aus komplexen Vielteilchen-Phänomenen in Festkörpern ungeahnte Anwendungsmöglichkeiten ergeben, macht dieses Forschungsgebiet besonders spannend.“