Um den Megatrend Industrie 4.0 zu verstehen, muss man sich zunächst einmal bewusst machen, was genau daran eigentlich neu ist; M2M-Kommunikation, also die Verbindung von Maschinen untereinander und mit einem zentralen Rechner, gibt es schließlich schon seit vielen Jahren. Im Vergleich dazu lassen sich aber drei wesentliche Neuerungen identifizieren, die als technologische Treiber hinter Industrie 4.0 stehen.
Zum einen ist das Internet als Kommunikationsnetzwerk inzwischen für fast alle Assets verfügbar, selbst für Maschinen in der Fabrik oder Anlagen im freien Feld. Das erlaubt eine wesentlich effizientere und kostengünstigere Vernetzung, da Unternehmen für die Verbindung ihrer Anlagen und Maschinen kein eigenes Netzwerk mehr aufbauen müssen. Zweitens stehen heute deutlich intelligentere und erschwinglichere Sensoren zur Verfügung als in der Vergangenheit. Anlagen oder Maschinen sind häufig schon ab Werk mit den unterschiedlichsten Sensoren ausgestattet, die eine Fülle an Betriebsdaten liefern können. Aber auch die Nachrüstung mit Sensoren ist heute oft unkompliziert möglich, ohne dafür ein Vermögen ausgeben zu müssen. Der dritte wesentliche Treiber von Industrie 4.0 ist die Verfügbarkeit von IoT-Plattformen in der Cloud. Mit ihnen lassen sich die riesigen Datenmengen, die unter anderem von den Sensoren geliefert werden, verarbeiten, ohne dafür selbst ein Rechenzentrum aufbauen zu müssen.
Maschinen und Geschäftsprozesse verknüpfen
Die entscheidende Neuerung von Industrie 4.0 besteht also darin, dass die Integration von Anlagen und Maschinen in die IT-Systeme nun viel einfacher und kostengünstiger realisierbar ist als in der Vergangenheit. Unternehmen können die von Maschinen und Anlagen ausgesendeten Daten sehr einfach in den Cloud-Plattformen empfangen, speichern und dort analysieren. Damit sind für die Industrie natürlich völlig neue, disruptive Geschäftsmodelle denkbar, die ganze Branchen auf den Kopf stellen. So könnten beispielsweise aus vielen Maschinenherstellern schon bald Anbieter von Services werden. Sie verkaufen dann keine Maschinen mehr, sondern Maschinenzeiten oder Betriebsergebnisse wie etwa eine bestimmte Anzahl bearbeiteter Werkstücke. Der Hersteller sammelt dazu die nötigen Daten, kann auf dieser Basis einen nutzerorientierten Preis kalkulieren und die tatsächliche Nutzung der Maschinen jederzeit nachvollziehen. Das hat aber ganz erhebliche Auswirkungen auf sein Geschäft. Er wird zum Dienstleister und hat es dadurch mit völlig neuen Kundenbeziehungen, Vertriebsansätzen und Geldflüssen zu tun. Außerdem geht das Betriebsrisiko vom Nutzer der Maschine auf ihn über. Selbst wenn ein Maschinenhersteller das vielleicht gar nicht möchte, kann es sein, dass er in Zukunft gar keine andere Wahl hat, als sich dem anzuschließen – weil seine Mitbewerber derartige Angebote machen und seine Kunden deshalb herkömmliche Bezahlmodelle nicht länger akzeptieren.
Die Realität der meisten Unternehmen sieht aber nicht ganz so umwälzend aus. Für sie bedeutet Industrie 4.0 vor allem eine inkrementelle Verbesserung ihres Geschäfts. Sie nutzen die Verbindung von Maschinendaten mit den Geschäftsanwendungen, um ihre Prozesse Schritt für Schritt zu optimieren, so dass sie effizienter werden und/oder für höhere Qualität sorgen.
Optimierung von Instandhaltungsprozessen
Ein Beispiel dafür ist das städtische Transportunternehmen Sporveien, das das Straßen- und U-Bahnnetz in Oslo betreibt. Jeder technische Defekt, der zum Stillstand einer Bahn führt, hat sofort starke Auswirkungen auf den gesamten Schienenverkehr und kann zu zahlreichen Verspätungen führen. Um die Instandhaltung der Straßen- und U-Bahnen zu optimieren und damit die Ausfallzeiten zu senken, baut das Unternehmen derzeit mit der Business Software IFS Applications und der Microsoft Azure IoT-Suite eine Industrie-4.0-Lösung auf. Sie wird das Unternehmen künftig bei allen sich anbahnenden technischen Problemen informieren und automatisch die Wartung in die Wege leiten, bevor es zu einem Ausfall kommen kann.
Ein erster konkreter Anwendungsfall für die Instandhaltung der Türen von Straßen- und U-Bahnen wird auf Basis dieser Lösung derzeit realisiert. Da die Türen der Bahnen abhängig vom Verhalten der Passagiere unterschiedlich häufig geöffnet und geschlossen werden, war es in der Vergangenheit relativ schwierig zu prognostizieren, wann die Lager der Türen verschlissen sind. Anders dagegen heute: Die Türen der Bahnen sind mit Sensoren ausgestattet, die unter anderem den Zustand der Lager messen und die Daten dazu aussenden können. An ausgewählten Haltestationen finden sich WLANs, wo diese Daten laufend an die MS Azure IoT-Suite übertragen werden, die sie kontinuierlich analysiert. Ergibt die Datenanalyse, dass der Widerstand beim Öffnen und Schließen der Türen wächst, ist dies ein Hinweis darauf, dass die Lager demnächst verschlissen sind und ausgetauscht werden müssen. In diesem Fall wird im Service Management von IFS Applications, das mit der IoT-Suite verbunden ist, automatisch ein Reparaturauftrag angestoßen. Die Türenlager werden dann in der nächsten Nacht ausgetauscht, wenn die betroffene Bahn nicht gebraucht wird. Dadurch ist zum einen sichergestellt, dass die Züge nicht untertags ausfallen, weil sich ihre Türen nicht mehr öffnen oder schließen lassen. Gleichzeitig ist aber auch gewährleistet, dass die Lager nur ausgetauscht werden, wenn es wirklich nötig ist. Überflüssige Wartungsarbeiten, die auf bloßen Verdacht hin ausgeführt werden, sind hinfällig.
Wollen Unternehmen ähnlich wie Sporveien ihre Prozesse mit Industrie 4.0 schrittweise verbessern, benötigen sie Mut, Entdeckergeist und Veränderungsbereitschaft. Außerdem erfordert der Übergang von manuellen zu digitalisierten Verfahren viel Vertrauen. Mitarbeiter müssen vielleicht erst noch lernen, sich auf die Daten und automatisierten Prozesse genauso zu verlassen wie bislang auf ihre Erfahrung. Um das zu erreichen, sollten die Unternehmen ihre Industrie-4.0-Projekte mit einem geeigneten Change Management begleiten.