Hochgetürmt in Werkstätten, auf Bauernhöfen oder Waldböschungen: Altreifen ohne sinnvolle Verwendung gibt es zuhauf. Jeder, der Auto fährt, fragt sich vermutlich hin und wieder, was aus seinen soeben getauschten Reifen werden mag, fallen doch jedes Jahr allein in Europa über drei Millionen Tonnen des ausrangierten Gummimaterials an. Endstation in fast allen Fällen: Verbrennen und dann hinein ins Zementwerk. Die das Problem erkannt hatten, waren „vier Freunde“ in hitziger Diskussion beim Treffen in einer „9 qm großen Gartenlaube“ im Jahr 2008. Laut Pyrum kam es hier zur Initialzündung für die Unternehmensgründung.
Es war der erste Schritt eines langen Weges. 2023 ging nun der zweite von drei Pyrolyse-Reaktoren im industriellen Maßstab in 24/7-Betrieb. Unter Sauerstoffausschluss wird dort heute ein Gemisch aus nach spezieller Rezeptur geschredderten Altreifen pyrolysiert. Das Granulat wird unter hohen Temperaturen und unter Sauerstoffausschluss in Koks (48 Prozent), Gas (20 Prozent) und Öl (32 Prozent) aufgespalten. 5.000 Tonnen Gummigranulat, die Menge von etwa 7.500 Tonnen Reifen, wandelt Reaktor 2 ab sofort jährlich um. Gerade das Koks ist dabei der wertvolle Anteil: Die Qualität, die entsteht, ist abhängig von der zugeführten Mischung sowie den Prozessparametern und der -stabilität. Abnehmer gibt es aber für die Produkte schon lange.
15 Jahre auf der grünen Wiese
Fast genau 15 Jahre benötigte Pyrum, bevor aus dem Start-up ein inzwischen global agierender Technologielieferant wurde. Eine große Herausforderung lag darin, die zahlreichen Anlagenprozesse stabil zu steuern. In deren Verläufen werden viele Tonnen Rohmaterial durch einen Reaktor geschleust, und dabei fünf Etagen Weg, immer einen 25 Meter hohen Turm hinunter, zurückgelegt. Die große Kunst dabei ist es, genaue Dosierungen sowie Druck- und Temperaturniveaus präzise einzuhalten, damit weder zähe Materialklumpen entstehen noch Leitungen verschmutzen und verstopfen.
Wartung ohne Fachpersonal
Pyrum will seine Anlagen-Technologie samt Geschäftsmodell als Technologielieferant weltweit etablieren. Was überall als Masterplan fungieren soll, das muss ausgereift sein: Auf Herz und Nieren geprüft und jede Eventualität bereits vorweg gedacht. Allerneueste Prozesstechnik sorgt im Reaktorturm des Unternehmens für eine intelligente Kommunikation zwischen allen beteiligten Komponenten und für die nötige Stabilität und Zuverlässigkeit. Sie fällt in den Zuständigkeitsbereich der leitenden MSR-Ingenieure Christian Maas und stellvertretend Meike Jungmann. Leitung heißt in ihrem Fall: Von der Pike auf entwickeln: tüfteln, testen, verwerfen, neu denken. „Wir haben viel Lehrgeld bezahlt, unfassbar viel getestet und weiterprobiert,“ fasst er zusammen. Zugute kam ihm dabei seine berufliche Erfahrung in der Energiewirtschaft. Hier lernt man unter anderem, nicht am falschen Ende zu sparen. „Keine Kompromisse“ lautet auch deshalb seine Devise für die vielen Füllstand- und Drucksensoren im Einsatz. „Wenn die Anwendungen nicht zu hundert Prozent zuverlässig überwacht werden, helfen uns die besten Prozesse nicht.“ Fehler, hat er gelernt, sind teuer und setzt deshalb auf maximale Sensorqualität. „Sie zahlt sich in jedem Fall aus.“ Maas verweist dabei auf Vega-Drucksensoren, die mit Harting-Steckern ausgestattet im Zusammenspiel mit der Leittechnik durch maximale Einfachheit für Sicherheit sorgen. Alles soll möglichst ohne Fachpersonal gewartet und ausgetauscht werden.
Digitalisierung auf neuem Level
Die gesamte Leitwarte der Dillinger Anlage wirkt im Herbst 2023 noch brandneu. Am Schreibtisch, chic ausgestattet mit web-basierter Prozessleittechnik, überwacht eine vierköpfige Mannschaft sämtliche Prozesse und Abläufe des Werks. Je Reaktorlinie reicht ein einziger Arbeitsplatz im Fünf-Schicht System aus. „Wir konnten unser Digitalisierungsmodell auf der grünen Wiese gestalten. Das ist Segen und Fluch zugleich“, erklärte Maas. Die Inbetriebnahme sowie das Operator Training wurden virtuell anhand digitaler Modelle der Anlagen- sowie Messtechnik bereits im Vorfeld umgesetzt. Möglichst risikoarm, um Folgekosten zu vermeiden. Jedoch für den Preis, dass alles ohne Vorbilder völlig neu designt werden musste.
Für die Zukunft arbeiten die MSR-Ingenieure an einer Demo-Anlage, in der zukünftige Digitalisierungskonzepte abgebildet und Technologien wie MTP (Module Type Package) oder Ethernet-APL als Kommunikationsplattform vorab auf Herz und Nieren getestet werden können. „APL eröffnet uns mit seiner hohen Übertragungsrate neue Möglichkeiten in der Nutzung weiterer Daten aus dem Feld“, ist er überzeugt. Wie genau die Prozesse in anspruchsvollen Umgebungen, etwa unter Explosionsgefahr oder über größere Entfernungen hinweg laufen, ist dank Demo-Anlage im Voraus klar: Die Daten werden zukünftig nicht nur blitzschnell durch Vega-Sensoren in das Leitsystem hochgeladen, sondern von dort aus problemlos bei Bedarf abgerufen. Fehler können so nicht nur entscheidend schneller erkannt, sondern rechtzeitig vermieden werden.
Das Herzstück auf Etage 3
Das Zentrum der Prozessanlage, für die Pyrum mehrere internationale Patente hält, besteht aus dem Reaktor auf Etage 3. Allein hier inmitten von 170 Regelkreisen integriert, überwachen und diagnostizieren Vega-Messgeräte, dass die Reaktionen ihre Prozessstufen innerhalb der exakt vorgeschriebenen Grenzstände und Druckspektren durchlaufen. Eine Messstelle, die hier oben ins Auge fällt, ist ein Druckmessumformer Vegabar 83, verantwortlich für die Erfassung des Gasdrucks innerhalb des Reaktors. Auch die Kondensationsstufen und Drücke innerhalb der Kondensatkreisläufe müssen exakt überwacht und geregelt werden. Bei Abweichungen ist eine saubere Abtrennung des wertvollen Öls von unerwünschten Stoffen nicht mehr gewährleistet und das Produkt wird verunreinigt. „Die Messtechnik muss hier auch unter erschwerten Prozessbedingungen zuverlässig liefern“ so Maas.
Sensorpotenzial eben mal verdoppelt
Vega-Sensoren erfassen gleichzeitig mehrere Prozessdaten, inklusive Trennschichtmessung. Maas: „Diese ist für fast alle unsere Behälter wichtig. Wir können damit eine Phasentrennung in den Tanks kontrollieren und unsere Wartungseinsätze besser planen.“ Die Datenbasis dafür sollen mittels zweitem Datenkanal bereits eingesetzte Sensoren liefern. Dabei wird der in der Messtechnik verwendete Kommunikationsstandard Profibus PA voll ausgenutzt und drei Kanäle gleichzeitig verwendet. Derweil erarbeitet das MSR-Team bereits die nächsten Effizienzstufe: Mittels weiterer Prozess- sowie Messstellendaten sollen künftig bisher notwendige Messstellen anhand digitaler Modelle ersetzt werden. „Die Grundbausteine hierfür sind eine zuverlässige Sensortechnik, als auch geeignete Kommunikations- und Digitalisierungskonzepte“.
Begehrter Feinstaub
Mit rund 48 Prozent ist der Pyrolysekoks ebenso wie das Pyrolyseöl ein sehr gefragter Grundstoff. Doch bevor er der Industrie wieder zugeführt werden kann, muss es nach dem Reaktor von 550 °C auf Umgebungstemperatur kontrolliert abgekühlt werden. Hier, im Bereich der Kokskühlung, überwachen Drucksensoren Vegabar 83 und geführte Radarsensoren Vegaflex 86 kontinuierlich die Drücke und Füllstände und sorgen hiermit für eine konstante Auslastung der Kühlsysteme. Die Sensoren sind auf raue Umgebungsbedingungen und hohe Temperaturen ausgelegt. Grenzstände, oftmals sicherheitsrelevant, werden durch Vegaswing 61 auch in explosionsfähigen Atmosphären zuverlässig überwacht, bevor der Pyrolysekoks zur Koksmühle weitergeleitet wird. Dort angekommen, wird er ultrafein vermahlen und schließlich zu recovered Carbon Black pelletiert. Mit seiner typischen Partikelgröße von weniger als 10 µm Durchmesser dient das Pulver als Grundstoff für die Fertigung neuer Gummis, Farben oder Lacke. Allein für Reifen werden aktuell weltweit jährlich rund 8,5 Millionen Tonnen des feinen Schüttguts verbraucht. Tendenz steigend. Kein Wunder also, dass man bei Pyrum begeistert ist vom mit 48 Prozent hohen Anteil, den der Recycling-Mix der Anlage enthält. An Abnehmern dafür kann sich das Unternehmen kaum retten.
Die Reifenwelt ein Stückchen grüner gemacht
Intensive Forschungsjahre und zähes Ringen liegen hinter der Pyrum-Geschäftsführung und den inzwischen etwa 70 Mitarbeitenden in Dillingen. Das haben auch die MSR-Ingenieure Christian Maas und Meike Jungmann so erlebt. Nach erfolgreicher Inbetriebnahme der Anlage im industriellen Maßstab haben sie jetzt Gewissheit, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Größere Aufträge liegen in der Schublade, Abnahmeverträge für die produzierten Rohstoffe sind mit wichtigen Playern aus Chemie- und Reifenindustrie langfristig geschlossen, das nächste eigene Werk befindet sich auf der Startbahn. Der eigentliche Meilenstein ist es jedoch, dass alle Endprodukte des Recyclingverfahrens zu 100 Prozent wiederverwertbar sind. Pyrum darf sich auf die Fahnen schreiben, neue Märkte für Pyrolyseöl und Carbon Black erschlossen – und den Reifenmarkt ein entscheidendes Stückchen grüner gemacht zu haben.