Europa ist, etwa bei der innovativen Erneuerung der Fertigungstechnik durch das Zusammenwachsen mit der virtuellen Datentechnik zum Internet der Dinge, auf die modernsten und intelligentesten elektronischen Bausteine angewiesen. Und es wäre auf die Dauer ein unsicherer, unhaltbarer Zustand, wenn man diese überwiegend oder ausschließlich aus den konkurrierenden Weltregionen beziehen und sich so in eine bedrohliche Abhängigkeit begeben müsste. Aus diesem Grund hat die EU Initiativen ergriffen, um die europäische Bauelemente-Industrie zu stärken und deren sinkende Marktanteile wieder signifikant zu erhöhen.
Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Produktionsprozesse der Zukunft effizienter, vernetzter, zuverlässiger und sicherer ablaufen müssen. Der moderne (End-)Verbraucher wurde von den Kollegen aus Marketing und Vertrieb dazu erzogen, immer noch höher individualisierte Ansprüche zu stellen. Er hat sich in manchen Bereichen (zum Beispiel beim Smartphone) an Produktlebenszyklen im Abstand von wenigen Monaten ebenso gewöhnt wie an die damit verbundenen unzähligen Varianten und Variationsmöglichkeiten. Er stellt sich sein Auto bis in letzte Details und Kombinationen selbst zusammen und ist leicht angesäuert, wenn dieses technische Wunderwerk in Losgröße 1 nicht innerhalb einer Woche vor seiner Tür steht. Wobei er trotz minimalem Wartungsaufwand eine erstklassige Qualität sowie eine gegen Null gehende Ausfallrate wie selbstverständlich voraussetzt.
Es ist also auch der „digital programmierte“ Endverbraucher, der auf personalisierte, maßgeschneiderte und ständig bessere Produkte pocht und die Unternehmen zwingt, sich ständig neu anzupassen und einem starken Wettbewerbsdruck in einem rauen wirtschaftlichen Umfeld entgegenzustemmen. Letztlich sind diese Anforderungen nur mit intelligenten Fertigungseinrichtungen zu erreichen, die auf hochentwickelten Elektronikbausteinen sowie modernster Informations- und Kommunikationstechnologie beruhen und die das Überleben Europas bestimmen. Ob nun Energiewende, die Automobilindustrie oder Industrie 4.0 – die für moderne Lösungen unbedingt notwendige Intelligenz steckt in Embedded-Systemen und deren Chips.
Um beim letztgenannten Anwendungsfeld zu bleiben: Im Umfeld der aktuellen technischen Messen, sei es die Embedded World oder die Hannover Messe, aber auch in Wirtschafts- und Regierungskreisen wird der Begriff Industrie 4.0 oder „integrierte Fertigung“ als Heilsbringer derzeit geradezu überstrapaziert. Die Ausgangsposition von Deutschland mit seinem einzigartigen Mix aus großen und kleinen Unternehmen, Zulieferfirmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Forschungsverbünden ist gar nicht so schlecht. In Hannover waren unzählige Lösungsvorschläge zu sehen. Zum Beispiel will Siemens mit ganzheitlicher Integration den Weg in die Zukunft der Industrie öffnen – über eine umfassende technologische Plattform, die weitere Verschmelzung von realer und virtueller Produktion sowie umfangreichen partnerschaftlichen Sicherheitsangeboten.
Die industrielle Fertigung, vor allem hierzulande, steht unbestritten vor großen Herausforderungen und einem tiefgreifenden Wandel, der von allen Bereichen ausgehen und getragen werden muss. Die Idee hinter der Querschnittstechnologie ist zweifellos faszinierend, überzeugend und anscheinend revolutionär, der Durchführungsprozess jedoch ist trotz aller Akzeleration evolutionär, mühsam und teuer. Probleme im Zusammenhang mit Interaktion, Sicherheit, Standards sowie interdisziplinärer Zusammenarbeit lassen sich nicht so leicht und vor allem nicht in einem Aufwasch beheben.
Dass der Wirtschaftsstandort Deutschland von der vierten industriellen Revolution kräftig profitieren kann, weist eine Studie nach, die vom Fraunhofer-Institut IAO im Auftrag des BITKOM erstellt wurde (Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland). Allein in sechs volkswirtschaftlich wichtigen Branchen sollen bis 2025 Produktivitätssteigerungen in Höhe von insgesamt rund 78 Milliarden Euro möglich sein. Durchschnittlich 1,7 Prozent pro Jahr und Branche können als zusätzliche Bruttowertschöpfung erzielt werden. Der Begriff umschreibt den Gesamtwert aller produzierten Waren und Dienstleistungen, abzüglich der Vorleistungen. Besonders stark können der Maschinen- und Anlagenbau, die Elektrotechnik und die chemische Industrie profitieren.
Hoher Marktanteil angestrebt
Voraussetzung für die vernetzten und miteinander kommunizierenden Fertigungsanlagen sind, wie gesagt, elektronische Bauelemente, die bislang leider nur zu einem geringen Prozentsatz aus heimischer Produktion stammen. Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, vor allem der Maschinenbauunternehmen, nicht zu gefährden, hatte die EU-Kommission im Vorjahr beschlossen, unter anderem durch ein abgestimmtes Privat/Partnerschafts-Programm den Weltmarktanteil der (nicht mehr sonderlich zahlreichen) europäischen Chiphersteller von derzeit weniger als 10 in einem überschaubaren Zeitraum auf 20 Prozent zu verdoppeln. Das inzwischen als unrealistisch erkannte (und durch ECSEL, siehe unten, ersetzte) Vorhaben – es entstand im Wesentlichen auf Betreiben von Lobbyisten der europäischen Hersteller von Equipment zur Halbleiterherstellung – lief unter der kryptischen Bezeichnung 10/100/20: Neben 10 Milliarden Euro Privat-Investitionen wollte die Europäische Union 100 Milliarden Euro in die Halbleiterfertigung stecken, um so das beschlossene 20-Prozent-Ziel zu erreichen.
Dennoch sind und bleiben Halbleiter und ihre Wertschöpfungskette die Basis von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit in allen wesentlichen wirtschaftlichen Bereichen. Mikro- und nanoelektronische Bauelemente und Systeme sind sowohl in Europa als auch weltweit Enabler für die Generierung von mindestens 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Europa sind ungefähr 250.000 Menschen direkt im Halbleiter-Ökosystem tätig, und über 800.000 arbeiten an der Integration von Bauelementen in Systeme, Anwendungen und Dienstleistungen. Über alles gesehen, sind in Europa mehr als 2,5 Millionen Menschen in der kompletten Wertschöpfungskette beschäftigt.
Airbus der Chips
Europas Führungsrolle in Sektoren wie der Kraftfahrzeugtechnik, Luft- und Raumfahrt, Schienenverkehr, Medizintechnik und Gesundheitsvorsorge, Energienetzen, Sicherheitssystemen sowie der Gebäudeinfrastruktur soll durch Design und Fertigung moderner Elektronikkomponenten und Systeme gestützt werden. In dem neuen Joint Undertaking ECSEL (Electronic Components and Systems for European Leadership), das mit rund fünf Milliarden Euro ausgestattet ist, sollen die drei EU-Bereiche Embedded Systeme und Software (ARTEMIS), Halbleitertechnologie (ENIAC) und Systemintegration (EPoSS) zusammengeführt werden. Die gemeinsame Zielsetzung von EU, Mitgliedsstaaten, Wirtschaft und Wissenschaft ist, die globale Technologie- und Marktführerschaft bei elektronischen Komponenten und Systemen zu erlangen.
Im Zusammenhang mit den erwähnten europäischen Strategiezielen wurde die Electronic Leaders Group (ELG) aus Unternehmens-Chefs der Elektronikbranche gebildet, die in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten neue Wege zur Erreichung dieser Ziele finden wollen. Diese elitäre elfköpfige Expertengruppe aus den Unternehmen ARM, ASMI, CEA, Fraunhofer, Globalfoundries, Imec, Infineon, Intel, NXP, Soitec und STMicroelectronics hat der EU-Kommissarin Neelie Kroes Vorschläge unterbreitet, wie die EU in zehn Jahren ihre Elektronikproduktion verdoppeln sowie sein Mobilfunk- und Drahtloskommunikation stärken kann.
Europa solle sich sowohl auf Bereiche konzentrieren, in denen es – wie oben bereits erwähnt – stark ist, als auch auf neue Bereiche mit hohen Wachstumsaussichten, zum Beispiel Smart Grids. Damit könnten in den kommenden zehn Jahren bis zu 60 Prozent der Elektronikmärkte erobert und der wirtschaftliche Wert der Halbleiterkomponenten verdoppelt
werden.
Um Wachstum zu erzielen, muss eine Wettbewerbsfähigkeit in neuen und existierenden Märkten erreicht werden. Dabei machte die ELG drei Säulen mit hohen Wachstumschancen aus, die gut zu den europäischen Stärken und Kompetenzen passen:
Bereits existierende Bereiche, in denen Europa stark ist und die ein überdurchschnittliches Wachstum des Electronic Content aufweisen, so Automotive, Energie, Industrieautomatisierung und Sicherheit.
Neue Bereiche mit hohen Wachstumserwartungen, besonders das Internet of Things (IoT), bei dem Europa gut positioniert ist, um von der Entwicklung der zu erwartenden Smart-X-Märkte zu profitieren.
Märkte in der sich ändernden Landschaft der mobilen Konvergenz, zum Beispiel die Aufrechterhaltung der Führungsposition von energiesparenden Prozessoren sowie der Weiterentwicklung der modernen Halbleiterfertigung.
Neelie Kroes, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, erklärte dazu: „Ich möchte, dass wir das Steuer in die Hand nehmen. Die Branche will wieder ganz nach vorn. Deshalb lautet meine Botschaft: Wir wollen Europa zu dem Standort machen, an dem innovative Mikro- und Nanoelektronik gemacht und gekauft wird.“ Die Unternehmergruppe Electronic Leaders Group wird in den kommenden Monaten daran arbeiten, aus den genannten Ideen bis Juni 2014 konkrete Aktionen zu machen.
Zum EU-Programm ECSEL stellte die deutsche Industrie und Forschung Anfang April auf dem Munich Spring Event 2014 den branchenübergreifenden Arbeitskreis ECSEL Germany der Öffentlichkeit vor. „Mit ECSEL hat die Europäische Gemeinschaft ein wichtiges Forschungs- und Innovationsprogramm aufgelegt, um den Wirtschaftsstandort Europa zu stärken. Nun gilt es, mit Unterstützung der Politik das milliardenschwere Programm in global führende Technologien und Marktführerschaft umzusetzen“, sagte Dr. Reinhard Ploss, erster Vorsitzender des Arbeitskreises ECSEL Germany und Vorstandsvorsitzender von Infineon.
Gemeinsam mit den weiteren Vorsitzenden im Arbeitskreis Prof. Dr. Heinrich Daembkes (Airbus) und Dr. Günter Lugert (Siemens) präsentierte er die Pläne des Arbeitskreises vor Vertretern nationaler und europäischer Institutionen. Dabei betonte Dr. Ploss, dass es in erster Linie um die intelligente Verwendung von beispielsweise modernen Mikroprozessoren gehe, weniger um deren Weiterentwicklung: „Die richtige Anwendung macht den Unterschied“.
Arbeit von ECSEL Germany
Der Arbeitskreis erarbeitet eine abgestimmte und ganzheitliche Forschungs- und Innovationsstrategie im Bereich elektronischer Komponenten und Systeme, um die deutsche Wettbewerbsposition zu verbessern. Industrie, Hochschulen und Institute wollen in den kommenden Jahren gemeinsam die Nanoelektronik, Embedded-Systeme und Cyber-Physical-Systems sowie Sensor-basierte Smart Systems weiterentwickeln. Die Vorhaben werden von der Grundlagenforschung bis zur Pilotentwicklung reichen und bilden die technologische Basis für gesellschaftlich wichtige Themen wie Gesundheit, Energie, Sicherheit oder auch Infrastruktur und Produktion.
Konkret geht es beispielsweise um Lösungen für eine sichere und zuverlässige Stromversorgung, um umweltfreundliche Mobilität oder auch um Produktion, die intelligent über das Internet gesteuert wird. Weitere Aspekte sind das ganzheitliche modellbasierte Design von elektronischen Systemen, insbesondere für Anwendungen, bei denen die Sicherheit eine dominierende Rolle spielt, so in Flugzeugen und Automobilen, bei Fertigungsanlagen oder in medizinischen Geräten.
Durch den Arbeitskreis ECSEL Germany, der Ende Juni mit einer Laufzeit von zehn Jahren offiziell startet, soll sichergestellt werden, dass die Interessen der deutschen Wirtschaft und Wissenschaft gebündelt und abgestimmt sind. Damit ist eine der wichtigen Voraussetzungen für den engen Dialog mit der deutschen Politik und für die optimale Planung und erfolgreiche Beteiligung an europäischen Forschungsprojekten in ECSEL geschaffen worden.
Die fünf Milliarden Euro des EU-Programms ECSEL setzen sich zusammen aus Geldern der EU und der beteiligten Länder (je ungefähr 1,2 Milliarden Euro) sowie den Beiträgen der Industrie selbst (rund 2,4 Milliarden Euro).