Um die Quanteneigenschaften von Materialien zu verstehen, sind besonders Phasenübergänge interessant, die sich direkt am absoluten Temperaturnullpunkt ereignen. Hier ist von einem sogenannten Quanten-Phasenübergang oder quantenkritischen Punkt die Rede.
Einen solchen Punkt hat ein Forschungsteam der TU Wien zusammen mit US-Wissenschaftlern bei einem neuartigen Material entdeckt – und zwar in ungewöhnlich klarer Ausprägung. Die Forscher vermuten, dass es sich um ein Weyl-Kondo-Halbmetall handeln könnte, dem aufgrund besonderer Quantenzustände großes Potenzial für die Quantentechnologie beigemessen wird. Sollte sich das bewahrheiten, wäre ein Schlüssel für die gezielte Entwicklung topologischer Quantenmaterialien gefunden.
Quantenkritikalität einfacher als je zuvor erreichen
„Meist untersucht man quantenkritisches Verhalten in Metallen oder Isolatoren“, erklärt Prof. Silke Bühler-Paschen vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien. „Wir haben uns nun aber ein Halbmetall angesehen.“ Genauer handelt es sich um eine Verbindung aus Cer, Ruthenium und Zinn: CeRu4Sn6.
Quantenkritikalität lässt sich für gewöhnlich nur unter künstlich erzeugten Umgebungsbedingungen herstellen, etwa bei bestimmtem Druck oder speziellen elektromagnetischen Feldern. „Überraschenderweise zeigte sich aber, dass unser Halbmetall ganz ohne Einwirken externer Einflüsse quantenkritisch ist“, sagt Wesley Fuhrman, Doktorand im Team von Prof. Collin Broholm an der Johns Hopkins University. „Normalerweise muss man hart arbeiten, um die passenden Laborbedingungen zu erzeugen, doch dieses Halbmetall liefert die Quantenkritikalität ganz von selbst.“
Elektronen, die sich sonderbar verhalten
Dieses überraschende Ergebnis dürfte damit zusammenhängen, dass das Verhalten der Elektronen in CeRu4Sn6 einige Besonderheiten aufweist. Bühler-Paschen: „Es handelt sich um ein hochkorreliertes Elektronensystem. Das bedeutet, dass die Elektronen stark miteinander interagieren, und dass man ihr Verhalten nicht erklären kann, indem man die Elektronen einzeln betrachtet.“
Diese Elektronen-Wechselwirkung führe zum sogenannten Kondo-Effekt, wie Bühler-Paschen weiter erklärt. „Dabei wird ein Quantenspin im Material von Elektronen ringsherum abgeschirmt, sodass der Spin auf den Rest des Materials keine Auswirkungen mehr hat.“
Wenn nur wenige freie Elektronen vorhanden sind – wie es in einem Halbmetall der Fall ist –, ist der Kondo-Effekt instabil. Das könnte der Grund für das quantenkritische Verhalten sein: Das System fluktuiert zwischen einem Zustand mit und einem ohne Kondo-Effekt, was sich wie ein Phasenübergang bei Temperatur null auswirkt.
Fluktuationen könnten zu Weyl-Teilchen führen
Der Hauptgrund, warum das Ergebnis für die Forscher so bedeutend ist, liegt in der vermuteten engen Verbindung zum Phänomen der „Weyl-Fermionen“. Bei Weyl-Fermionen in Festkörpern handelt es sich um Quasiteilchen, also keine Teilchen im üblichen Sinn, sondern Anregungen des Systems, die sich mathematisch aber wie Teilchen beschreiben lassen.
Wenn sich solche Weyl-Fermionen durch den Festkörper bewegen, dann bewegen sich keine Materieteilchen, sondern eine „Eigenschaft“ dieser Teilchen – vergleichbar mit einer Wasserwelle, die sich quer über einen Teich bewegen kann, ohne dass sich einzelne Wassermoleküle von einer Seite des Teichs auf die andere verschieben.
„Laut theoretischen Vorhersagen sollten in diesem Material solche Weyl-Fermionen existieren“, sagt der theoretische Quantenphysiker Qimiao Si der Rice University. Der experimentelle Beweis steht allerdings noch aus.
Störungsresistente Quantenzustände aufbauen
„Wir vermuten, dass die Quantenkritikalität, die wir beobachtet haben, das Auftreten solcher Weyl-Fermionen begünstigt“, sagt Silke Bühler-Paschen. „Quantenkritische Fluktuationen könnten also eine stabilisierende Wirkung auf Weyl-Fermionen haben, auf ähnliche Weise wie quantenkritische Fluktuationen in Hochtemperatur-Supraleitern die supraleitenden Cooper-Paare zusammenhalten. Das ist eine ganz fundamentale Frage, an der weltweit viel geforscht wird, und wir haben hier eine heiße neue Spur entdeckt.“
Die Hoffnung ist also, dass quantenkritische Fluktuationen, der Kondo-Effekt und Weyl-Fermionen im neuen Material eng miteinander verwoben sind und zusammen exotische Weyl-Kondo-Zustände ergeben. Das sind „topologische“ Zustände von besonders großer Stabilität, die im Gegensatz zu anderen Quantenzuständen durch Störungen von außen nicht so leicht zerstört werden können. Das macht sie besonders interessant für Quantencomputer.
Um all das zu überprüfen, wollen die Forscher weitere Messungen unter unterschiedlichen äußeren Bedingungen durchführen. Das Team geht davon aus, dass ein ähnliches Zusammenspiel der verschiedenen Quanteneffekte auch in anderen Materialien zu finden sein müsste. „Das könnte zur Etablierung eines Design-Konzepts führen, mit dem man solche Materialien gezielt verbessern, maßschneidern und für konkrete Anwendungen nutzen kann“, sagt Bühler-Paschen.
Die Forschungsarbeit entstand in einer Kooperation der TU Wien mit der Johns Hopkins University, des National Institute of Standards and Technology (NIST) und der Rice University.