Von einem Auto wird erwartet, dass es über viele Jahre hinweg zuverlässig fährt, bei Hitze und Frost, bei Regen und Sturm. Dabei steckt in unseren Fahrzeugen zunehmend mehr Elektronik, die diesen extremen Belastungen standhalten muss. Bislang wird dieses Problem für sicherheitskritische Systeme in der Praxis häufig mit Überauslegung und Redundanzen gelöst: Elektronische Systeme oder Teile davon werden zum Beispiel in zweifacher Ausführung verbaut, sodass beim Auftreten eines Fehlers die Stellvertreterelektronik übernehmen kann, bis das Problem behoben wird.
Ein Forschungsvorhaben am Fraunhofer IZM trägt dazu bei, dass es in diesem Bereich in Zukunft elegantere, nachhaltigere und energieeffizientere Lösungen geben wird. In dem Projekt „SesiM“, das unter der Leitung von Siemens seit Sommer vergangenen Jahres läuft, beschäftigen sich die Fraunhofer-Forschenden zusammen mit weiteren Partnern aus den Bereichen Mobilität und Künstlicher Intelligenz am Beispiel von Auto und Bahn mit der Frage, wie sich komplexe elektronische Systeme selbst validieren können, also selbst evaluieren und mitteilen können, wie es um ihre Funktionstüchtigkeit steht – zum Beispiel über ein integriertes Ampelsystem.
„Interessant ist dabei für uns weniger, ob die Elektronik kaputt ist oder nicht, sondern der Bereich dazwischen“, erklärt Dr. Johannes Jaeschke, Elektrotechniker und Leiter des Teilprojekts von Seiten des Fraunhofer IZM. „Schon lange bevor ein System ausfällt, können bestimmte Funktionen beeinträchtigt sein, zum Beispiel wenn Werkstoffe verspröden. An der mechanischen Stabilität des Bauteils kann man solche Alterserscheinungen oft erst sehr spät erkennen. Das erschwert die Überwachung von elektronischen Systemen.“
Aus Schwarz und Weiß wird Grau
Den Schlüssel für eine effektive Selbstvalidierung von elektronischen Systemen sehen die Projektbeteiligten in sogenannten Grey-Box-Modellen. Diese heißen so, weil sie sowohl auf White-Box- als auch auf Black-Box-Ansätzen basieren.
Am Fraunhofer IZM beschäftigt man sich seit vielen Jahren intensiv mit der physikalischen Ebene von elektronischen Systemen. Mit ihrer Expertise im Bereich Konzeption und Messtechnik können die Forschenden Modelle zur Zustandsbestimmung und -vorhersage erstellen, die auf physikalischen Prozessen basieren und beispielsweise Randbedingungen wie Temperatur oder Luftfeuchtigkeit mitmodellieren. Da die Funktionsweise solcher Modelle gut nachvollziehbar ist, werden sie auch White-Box-Modelle genannt.
Je komplexer elektronische Systeme werden, desto schwieriger wird es jedoch, sie rein auf der physikalischen Ebene ganzheitlich zu erfassen und zu überwachen. Für datengetriebene Modelle, die Methoden Künstlicher Intelligenz nutzen, sind komplexe Strukturen und riesige Datenmengen dagegen kein Problem. Was dabei innerhalb des Systems passiert, bleibt jedoch unklar – daher der Name Black-Box-Modell.
„Mit Grey-Box-Modellen können wir das Beste aus beiden Welten kombinieren“, fasst Jaeschke zusammen. „Deshalb sprechen wir hier auch von hybrider Modellierung. Wir können sehr viele Daten verarbeiten, verstehen bei Änderungen im Signal aber gleichzeitig auch die physikalischen Hintergründe. Damit steigt das Vertrauen in unsere Daten.“
Von Testleiterplatten zu Prototypen
Bisher sind Grey-Box-Modelle in der praktischen Anwendung weitestgehend Neuland. Und so arbeiten auch die Forschenden bei SesiM nach einer anfänglichen Konzeptionsphase derzeit mit der Beschreibung einfacher Schaltungen, die im Laufe des Forschungsprojekts immer weiter an Komplexität gewinnen werden. Die Testleiterplatten werden während der Fertigung und im Betriebszustand aufs Genauste vermessen und getestet. „So generieren wir einen digitalen Fingerabdruck unserer Testschaltung“, erklärt Jaeschke. Dabei werden auch Daten unter extremen Randbedingungen erhoben.
Im nächsten Schritt gilt es, innerhalb der riesigen Datenmengen die Parameter zu identifizieren, die für die Darstellung des Systems auch wirklich relevant sind, um daraus dann unter Berücksichtigung des physikalischen Wissens ein Modell zu erstellen, das Abweichungen von einem vorher festgelegten Idealzustand erkennt. Manipulationen von außen sollen damit schnellstmöglich erkannt und Verschleißerscheinungen frühzeitig vorhergesagt werden. Zu späteren Zeitpunkten im Projekt werden die Testleiterplatten dann in Prototypen in der Automobil- und Bahnanwendung überführt und die erstellten Modelle auch anhand dieser ausführlich evaluiert.
Potenzial für breite Anwendung
In Zukunft könnte also das eigene Auto über ein integriertes intelligentes System frühzeitig eine Warnmeldung anzeigen, wenn sich ein Problem in der Elektronik zeigt, und eine Selbstdiagnose stellen. Automechaniker wiederum könnten bei Wartungsarbeiten am Wagen alle vom Fahrzeug gesammelten Informationen über dessen Zustand auslesen und anhand dessen gezielte Reparaturmaßnahmen einleiten.
Ein Folgeprojekt der Forschenden am Fraunhofer IZM wird sich mit dem Thema Luftfahrt beschäftigen. Aber auch außerhalb des Mobilitätsbereichs sind Anwendungen denkbar, beispielsweise in der Medizintechnik oder bei entlegenen Windrädern, die für eine regelmäßige externe Überwachung und vorsorgliche Wartungen nur schwer zugänglich sind.
Vorrangiges Ziel von SesiM ist es aber zunächst nachzuweisen, dass das Grundprinzip der Selbstvalidierung elektronischer Systeme mithilfe von Grey-Box-Modellen auch tatsächlich funktioniert. Jaeschke glaubt fest an die Idee: „Gelingt uns dies, wird unser Ansatz maßgeblich dazu beitragen, die Zuverlässigkeit von elektronischen Systemen zu erhöhen. Gerade im sicherheitskritischen Mobilitätsbereich ist das von enormer Bedeutung und würde das Ansehen von in Deutschland entwickelter Automobil- und Bahntechnik weiter stärken.“