Interview zu KI vs. Corona Wie KI die Logistik resilienter macht

Sören Kerner, Abteilungsleiter Automation und eingebettete Systeme beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML und Mitglied der Plattform Lernende Systeme.

Bild: Fraunhofer IML
02.07.2020

Corona hat die Logistik mit dem Ausnahmezustand konfrontiert. Dies hat die größte Schwäche der manuellen Verbesserung gezeigt: die mangelnde Flexibilität. Sören Kerner, Abteilungsleiter Automation und eingebettete Systeme beim Fraunhofer IML erläutert im Interview, wie sich logistische Prozesse mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz verbessern lassen und welche Hürden dem aktuell noch im Weg stehen.

Toilettenpapier, Nudeln, Hefe: mit dem Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie fehlten plötzlich einige Produkte in den Supermarktregalen. Denn Logistik ist ein hochkomplexes und vernetztes System, das heute immer noch zumeist manuell verbessert wird und bei unvorhergesehenen Ereignissen rasch beeinträchtigt ist.

Wie sich logistische Prozesse mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz verbessern lassen und welche Hürden dem aktuell noch im Weg stehen, erläutert Sören Kerner, Abteilungsleiter Automation und eingebettete Systeme beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML und Mitglied der Arbeitsgruppe Mobilität und intelligente Verkehrssysteme der Plattform Lernende Systeme.

Die Corona-Pandemie stellt Logistik und Lieferverkehr vor große Herausforderungen. Wie kann Künstliche Intelligenz  dabei unterstützen?

Das logistische Netz in Deutschland ist hoch modern, ebenso wie die Lagerhaltung und die Intralogistik. Erreicht wird dies auch heutzutage noch durch einen hohen manuellen Einsatz in der Planung. Gleichzeitig werden die Lieferketten zunehmend verzahnter, die Komplexität der Logistik steigt superexponentiell.

Corona hat die Logistik mit dem Ausnahmezustand konfrontiert. Die Rahmenbedingungen wurden durch das Marktverhalten quasi von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Hier hat sich die größte Schwäche der manuellen Verbesserung gezeigt: die mangelnde Flexibilität. Ein anschauliches Beispiel, das jeden betroffen hat, ist Toilettenpapier. Das ist kein saisonaler Artikel.

Durch die Corona-bedingten Hamsterkäufe hat sich die Nachfrage aber sprunghaft geändert, so dass Kunden über Wochen vor leeren Regalen standen und im Internet gleichzeitig Videos von Staplerfahrern in Lagern voller Toilettenpapier kursierten. Grund waren starre Lieferketten. Hier kann KI gezielt helfen, um Prozesse auf Knopfdruck und je nach Bedarf zu verändern, bis hin zu autonomen, selbst-verbessernden Warenströmen.

Warum eignet sich Logistik besonders für eine KI-basierte Optimierung?

Logistik ist hochkomplex, folgt aber sehr einfachen Regeln, ähnlich wie das Spiel Go. Dieses ist bekanntlich ein Paradebeispiel für den Einsatz von maschinellen Lernverfahren, mit denen „übermenschliche“ Ergebnisse erzielt werden. Die Komplexität entsteht in beiden Fällen aus der Vielfalt und Multimodalität der Entscheidungsoptionen zu jedem Zeitpunkt.

In der Logistik gilt dies sowohl für Optimierungen von Supply Chain-Entscheidungen als auch für intralogistische Systeme. Es gibt aber auch Unterschiede: Go ist perfekt simulierbar. Dadurch können Künstliche Intelligenzen wie Alpha Go Zero hochskalierend gegen sich selbst trainieren und Unmengen von Daten zur Optimierung erzeugen.

Logistische Systeme lassen sich zwar auch Event-diskret skalierbar simulieren. Jedoch geht beim Schritt vom strategischen Spiel zur Realität etwas verloren: das perfekte Modell. Daher ist die Forschung an der Modellierung logistischer Systeme eine entscheidende Voraussetzung für die Übertragbarkeit in die Praxis.

Kann KI dazu beitragen, weltweite Warenströme künftig resilient zu gestalten?

Unbedingt! Die Wandelbarkeit, die KI für die Logistik verspricht, ist entscheidend für die Resilienz der Warenströme. Neben den algorithmischen Voraussetzungen für das Training von KI-Methoden sind jedoch noch weitere Hürden zu überwinden, etwa die Datentransparenz.

Die Veränderung komplexer Warenströme mit einer Vielzahl beteiligter Unternehmen kann erfolgreich sein, wenn die KI auf Daten über Unternehmensgrenzen hinweg zugreifen kann. Die vom Fraunhofer IML gestartete Initiative Silicon Economy hat sich das Ziel gesetzt, in den kommenden Jahren im Schulterschluss von Forschung und Industrie ein B2B-KI-Ökosystem zu schaffen.

Basierend auf Geschäftsmodellen einer Plattformökonomie in Kombinationen mit einer sicheren und souveränen Kommunikationsinfrastruktur mittels Industrial Data Space und Gaia-X wird die Silicon Economy die freie Entfaltung von KI-Algorithmen in bisher nicht gekanntem Maße ermöglichen.

Bleibt noch die alles entscheidende Frage: das Vertrauen in die Algorithmen. Als AlphaGo das erste Mal gegen den weltweit stärksten Spieler Lee Sedol antrat, sorgte der 37. Zug des KI-Systems bei den Kommentatoren für Reaktionen, die von Erstaunen bis Belustigung reichten. AlphaGo schien, nach menschlichem Verständnis, einen katastrophalen Fehlzug gemacht zu haben.

Nachträgliche Analysen zeigten aber, dass gerade dieser Zug der Grundstein für den Sieg von AlphaGo in dieser Partie war. Logistik ist eine eher konservative Branche. Hier braucht es erst noch Überzeugungsarbeit, durch KI-Optimierung das Heft des Handelns aus der Hand zu geben, und seitens der Industrie auch Mut.

Weiterführende Informationen

Wie Künstliche Intelligenz in ganz unterschiedlichen Bereichen zum Kampf gegen die Folgen der Corona-Pandemie beitragen kann, zeigt die Plattform Lernende Systeme anhand von Projekten und KI-Lösungen auf ihrer Sonder-Website zu Corona.

Wie eine KI-unterstützte Logistik in Zukunft aussehen könnte, illustriert das von der Plattform Lernende Systeme entwickelte Anwendungsszenario "Intelligent vernetzt unterwegs".

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