Der hohe und immer noch deutlich steigende Anteil dezentraler regenerativer Energieerzeugung, vorwiegend Windenergie und Photovoltaik, bringt die Stromnetze an vielen Stellen an ihre Belastungsgrenzen. Um weiterhin Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien sicher und wirtschaftlich in die Mittelspannungs- und Niederspannungsnetze einbinden zu können, haben sich führende Netzbetreiber im Großprojekt Grid4EU [1] mit Geräteherstellern und Universitäten zusammengeschlossen.
Das Großprojekt besteht aus sechs großflächigen Demonstrationsprojekten in sechs Ländern, in denen unterschiedliche Aspekte der Netzentwicklung untersucht werden. Die beteiligten Verteilnetzbetreiber haben das Ziel, die Erfahrungen untereinander auszutauschen, die sie mit intelligenten Verteilnetzen gemacht haben, und die Technologie gemeinsam voranzubringen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei darauf verwendet, dass die im Projekt erprobten Lösungen am Ende für einen breiten Praxiseinsatz bereit sind.
Autonomes Netzsteuerungssystem
Das deutsche Demonstrationsprojekt 1 im Rahmen von Grid4EU wird von RWE verantwortet und zielt darauf ab, ein autonomes Netzsteuerungssystem für den Mittelspannungsbereich zu entwickeln, zu realisieren und den Einsatz zu erproben. Projektpartner von RWE sind die Technischen Universität Dortmund und ABB.
Das zu realisierende System soll autonom und ohne Eingriff seitens einer Netzleitstelle autark agieren – so die grundlegende Idee. Um das zu verwirklichen, heißt es als primäres Ziel, unerkannte Überlastsituationen und Spannungsniveauverletzungen zu vermeiden. Erreicht wird dies durch Schaltvorgänge im Mittelspannungsnetz, die die Netztopologie der aktuellen Last- und Erzeugungssituation anpassen.
Dazu ist es notwendig, eine intelligente Steuerungstechnik in das Mittelspannungsnetz zu integrieren. Als Ergebnis der erweiterten Automatisierung werden eine höhere Netzzuverlässigkeit und kürzere Wiedereinschaltzeiten nach Netzfehlern erreicht sowie Netzverluste verringert. In Summe soll hier eine wirtschaftliche Möglichkeit gefunden werden, um einen kostenintensiven Netzausbau zu verzögern oder womöglich zu vermeiden.
Erprobt wird das Konzept im Gebiet von Reken in Nordrhein-Westfalen. Das betrachtete Netz eignet sich mit seinen städtisch-ländlichen Strukturen gut für die Demonstration. Bereits heute übersteigt die installierte Leistung aus erneuerbaren Energien die maximale Last um 20 Prozent, und ein weiterer Anstieg der dezentralen Erzeugung wird erwartet. Der Netzbereich von Reken besteht aus 120 Ortsnetzstationen (ONS). Im Projekt sind davon insgesamt 18 ONS mit Modulen ausgestattet, sieben mit Schalt- und elf mit Messmodulen. Schaltmodule können die Schaltanlagen ihrer Ortsnetzstation steuern, Messmodule liefern dagegen lediglich Messwerte.
Modulplatzierung
Einer der Schlüsselfaktoren des Projekts war der Optimierungsprozess, um Einbauorte und Mindestzahl der Schaltmodule im Mittelspannungsnetz zu evaluieren. Über zwei separate Annäherungsmethoden wurden die Einbauorte ermittelt. Mit der ersten Annäherung konnte auf Basis von allgemeinen Netzstrukturen ein Satz von heuristischen Regeln erstellt werden. Diese Regeln resultieren in Vorschlägen, wo Trennstellen eingesetzt werden sollten, um zwischen unterschiedlichen Netzkonfigurationen umzuschalten. Durch diese Re-Konfiguration können kritische Zustände wie Überlastungen oder Spannungsfehler verhindert oder rasch behoben werden.
Als zweite Annäherung wird die in der Netzplanung bewährte Trennstellenoptimierung benutzt. Die Berechnung beginnt mit einer komplett vermaschten Netzstruktur und betrachtet iterativ geeignete Trennstellen so lange, bis die gesamte Topologie strahlenförmig geworden ist. Beide Methoden führen zu ähnlichen Ergebnissen – sie finden die Einbauorte, an denen Schaltmodule das Trennen größerer Maschen ermöglichen. Messmodule werden an Abzweigen und zwischen Schaltmodulen so platziert, dass das Netz beobachtbar ist.
Systemstruktur
Um das autonome Steuerungssystem zu realisieren, welches das Netz ohne Netzleitsystem führen kann, gibt es zwei Möglichkeiten: einerseits eine zentralisierte Architektur, bei der die „intelligenten“ Funktionen in einem Master-Modul im übergeordneten Umspannwerk konzentriert sind. Slave-Module im Feld erfassen nur Messwerte und Steuersignale. Oder man betrachtet eine dezentrale Architektur, bei der alle Funktionen in allen Feldmodulen implementiert sind und das System als Agentensystem arbeitet. Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile.
Daher wurde letztendlich eine hybride Lösung realisiert, bei der die Slave-Module für das Erfassen und Übertragen von Messwerten, Stör- und Schalterstatusmeldungen sorgen. Die Lastprognose und die Zustandsüberwachung sind ebenfalls ausgelagert. Letztere überwacht die Grenzen für Strom und Spannung des zugeordneten Teilnetzbereichs. Im Fall von Grenzwertüberschreitungen werden diese Informationen an den Master gesendet. Zusätzlich liefert die lokale Prognose den wahrscheinlichsten Trend des Lastflusses für die nächsten Stunden. Ebenso wird die Funktion Fehlersuche, Freischalten und Wiederversorgung als dezentrale Aufgabe durchgeführt.
Als zentrales Element ist das Master-Modul in der RTU (Remote Terminal Unit) im Umspannwerk Reken implementiert. Seine Aufgaben sind das Überwachen des unterlagerten Systems und das Reagieren auf einige spezielle Betriebssituationen. Folgende Aufgaben obliegen dem Master:
Zustandsschätzung: Ermitteln des gesamten Systemstatus (sicherer Status – Fehlerstatus)
Optimierung: Ermitteln der verlustoptimierten Zieltopologie, basierend auf der aktuellen Situation und der Prognose, sowie Erzeugen des Schaltprogramms zur Topologieänderung
Schaltprogramm-Management: Ausführen und Überwachen der Schaltprogramme
Übermitteln von Informationen an das vorhandene Netzleitsystem
Die Algorithmen für die Netzberechnung, Fehlererkennung und Behebung wurden von der TU Dortmund entwickelt. Dafür und zur Verifikation der Ergebnisse wurde eine Testumgebung geschaffen, die neben der Simulation des Rekener Netzes auch die Hardwaremodule beinhaltet. Somit ist es möglich, nahezu alle Szenarien des realen Netzes mit der im Netz verbauten Konfiguration zu simulieren.
Alle Hardware-Module basieren auf der Fernwirkfamilie RTU500 von ABB. Die Implementierung wurde in der RTU-internen SPS (speicherprogrammierbare Steuerung) realisiert.
Simulationsergebnisse im Labor
Die komplette Systemstruktur und der Kern-Algorithmus des Systems wurden durch die TU Dortmund und ABB entwickelt und zunächst in Laborumgebung auf Basis von Echtzeitdaten simuliert und getestet. Dabei zeigte sich, dass der gesamte Vorgang vom Erkennen eines Netzfehlers bis zu seiner Beseitigung weniger als fünf Minuten dauert, was als angemessene Reaktionszeit betrachtet wird. Die Zeitspanne beinhaltet die Rechenzeit für die Optimierung, den Schaltvorgang, die Schalterreaktionszeit sowie die Zeit für die Meldung des erfolgreichen Schaltens.
Praxistest 2015
Der Praxistest wird in vier Phasen durchgeführt und hat mit der Phase 1 Ende 2014 begonnen:
Phase 1: Erfassen von Messwerten und Meldungen
Phase 2: Halbautomatisches Schalten – Schritt 1: Hier prüft das Leitstellen-Personal die vom autonomen System ermittelten Schaltfolgen und führt sie manuell durch.
Phase 3: Halbautomatisches Schalten – Schritt 2: Hier schaltet das System nach Freigabe durch das Leitstellen-Personal.
Phase 4: Autonomes Schalten: Das System schaltet völlig autonom.
Der Praxistest wird im Dezember 2015 beendet sein. Mit der langen Laufzeit will man erreichen, dass unter saisonal unterschiedlichen Einflüssen getestet werden kann. Das in Reken beispielhaft erprobte System soll nach dem Praxistest ein einfaches, standardisiertes Produkt werden, das trotz hoher Komplexität auch in Verteilnetzen der anderen europäischen Netzbetreiber eingesetzt werden kann.
Weitere Informationen
[1]: Grid4EU steht für Large-Scale Demonstration of Advanced Smart Grid Solutions with wide Replication and Scalability Potential for Europe, www.grid4eu.eu. Das Projekt wird im Rahmen des Projekts Grid4EU unter FP7 mitfinanziert von der Europäischen Kommission (Grant Agreement No ENER/FP7/268206).